Fließendes Land (German Edition)
stand am mittäglichen Nudeltopf. Es ginge, sagte eine männliche Stimme, um ein Schreibprojekt. Mit einer 2. Real in St. Moritz. Im Herbst. Schriftsteller würden in Schulklassen geschickt, über einige Wochen erarbeiteten sie dort einen Schulhausroman. Ich blies in den Wasserdampf und bewegte die Gabel. Bis Herbst war noch lange hin. Schreibkurse zwischen Universitäten und Kulturhotels gehören zu meinem Alltag. Warum nicht einmal im Klassenzimmer? Als ich die Capellini abgoß, hatte ich zugesagt. Sie hatten eine perfekte Konsistenz.
Es wurde Sommer, Herbst. Ein dicker Umschlag aus Zürich war gekommen; er lag ungeöffnet auf einem Stapel. Aber ich hatte mit dem Klassenlehrer in St. Moritz telephoniert. Auch Peter Arnet machte zum ersten Mal mit bei so einem Schulhausprojekt. Am Wochenende vor meinem Klassenbesuch öffnete ich den Umschlag und begann zu lesen. Mit wachsendem Entsetzen. Das waren keine Einzeltexte, wie sie aus Schreibspielen hervorgehen. Vor mir lagen schlüssige Erzählungen: realistisch oder surreal, psychologisch ernst oder slapstickhaft heiter. Das Wort »Schulhausroman« war nicht metaphorisch gemeint. Man wollte, daß ich mit einer Schulklasse einen längeren zusammenhängenden Text entwickeln würde.
Das kann ich nicht. – Unsinn, antwortete meine Freundin am Telephon sanft. – Ich habe noch nie eine aufregende Handlung geschrieben, sagte ich. Ich komme nicht aus den Räumen raus. Ich schreibe Seelenaugenblicke! Meine Freundin lachte auf. (Sie hat mehr Romane geschrieben als ich.) Du nimmst das jetzt wie Kochen, sagte sie. (Sie ist die bessere Köchin.) Du fragst die Schüler, was sie wollen: Liebesgeschichte, Abenteuergeschichte, Krimi? Und dann überlegt ihr, welche Zutaten ihr braucht. Helden, Konflikte, Orte. Ich dankte und legte auf. Das konnte nicht gutgehen.
Es war noch dunkel, als ich ins Postauto stieg. Dann ging es mit der Rhätischen Bahn durch den ersten Schnee hinauf ins Oberengadin. Mit jedem Höhenmeter stieg die Angst. Im kommenden Licht zeigten sich die Berge in ihrer entmutigenden Schönheit. Auf dem See dann das Boot, ein Segantini-Moment. Das Schulhaus Grevas lag am Hügel. Ich drückte die Glastür auf. Der Geruch von Kinderkleidern, Vesperbroten, Turnschweiß. In den Vitrinen ausgestopfte Tiere. Ein schlanker Mann mit weißen Haaren kam mir entgegen. Ich habe Sie kommen sehen, sagte er und gab mir die Hand.
Manchmal war es bei Reportagen so. Ein Lehmdorf im Süden Chinas, zwölf Eisenbahnstunden von Kunming entfernt; ein paar Hütten in der Savanne an der Cote d’Ivoire; ein Geröllstreifen Niemandsland an der griechisch-albanischen Grenze. Man war allein, man hatte keine Ahnung. Der ewige Augenblick zéro. Bis der Handschlag einer Übersetzerin kam, das Nicken einer Feticheuse oder ein ritterlicher Taxifahrer, der die Wagentür öffnete. Jetzt war es ein Lehrer, der vorausging.
Zwölf Kinder, Jugendliche, um die 14, 15 Jahre alt, drei Reihen von Schulbänken. Erwartungsoffene Blicke. – Ich bin eure Schreiblehrerin, sagte ich. (Was war ich?) Wir machen zusammen einen Schulhausroman. (Wenn ich nur wüßte, wie.) Es ist eure Geschichte. Ich bin für euch da. (Das war wohl das mindeste!) Wollt ihr eine Liebesgeschichte oder einen Abenteuerroman? (Hochstaplerin!) Die Schüler lächelten. (Immerhin.) Aber sie schwiegen. Ihr wohnt in St. Moritz, versuchte ich es, wir könnten eine Geschichte über euren Ort schreiben. (Hört, hört, die Reporterin!) Wir könnten den Ort St. Max nennen. (Sehr originell!) Einige Schüler kicherten, aber offensichtlich fanden sie die Idee blöd. (Ich jetzt auch.) Der Lehrer lächelte aufmunternd. (Souverän. Abwartend.) Wir können machen, was ihr wollt, sagte ich hilflos. Ein Mädchen meldete sich, es hatte einen italienischen Vornamen: Ein Mädchen soll vorkommen, das gerne reist. Das Mädchen kommt aus Italien, aber es lebt woanders. – (Danke, liebes Mädchen, für das Mädchen!) Und wohin will es reisen? – Japan, Tokio, sagte ein Junge. Amerika, sagte das Mädchen. Ein anderer Junge meldete sich. Das Mädchen, sagte er, soll nicht aus Italien kommen. Es soll woandersher kommen. (Oh, er interessiert sich schon für unsere noch kaum erfundene Heldin. Und er will sie lösen aus der Deutungshoheit ihrer ersten Erfinderin.) – Gut, sagte ich, woher soll das Mädchen denn kommen? – Von einer Insel zum Beispiel, rief jemand. – Einverstanden, sagte ich. Wir haben also ein Mädchen, das gerne reist. Es lebt auf einer Insel. Und wo
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