Fließendes Land (German Edition)
liegt die Insel? Wo es immer warm ist, rief ein Junge. Und es gibt Strände. – Eine Vulkaninsel im Pazifik vielleicht? Im Unterschied zu St. Max kam die Vulkaninsel sofort an. Durch das Fenster sah ich auf den verschneiten Muottas Muragl. Und warum will das Mädchen reisen? – Es will weg. Es hat Zoff mit seiner Mutter. – Und was macht der Vater? – Der Vater ist verschwunden. Vielleicht sucht das Mädchen den Vater? Auch diese Idee wurde akzeptiert. – Wir sind frei, sagte ich. (Stimmt nicht. Es mußte zusammenpassen.) Wie reist das Mädchen denn? Pause. Es kann ein Auto haben, sagte ich. Das Mädchen will nach Tokio, sagte ein Junge. Das Auto kann vielleicht fliegen, sagte ich. Plötzlich kam Bewegung in die Klasse. Und vielleicht kann es sprechen, wie Herbie, sagte ein Junge. Wenn es sprechen kann, sagte ich, kann es auch tauchen. – Und es kann die Sprache der Tiere verstehen, sagte ein Mädchen. Und es kann die Gedanken der Menschen lesen, sagte ein Junge. Meistens, sagte ich. Und es hat Waffen an Bord, rief ein Junge. Es ist ein Geheimagent, rief ein anderer. Und es fährt nur mit Sauerstoff. Aber bei Gefahr kann es Öl und Nägel ablassen. Und wie heißt es? – 006, sagte ein Junge. Das ist blöd, sagte ein anderer. Das klingt wie 007, das gibt es schon. Gut, sagte ich, wenn es nur Sauerstoff braucht und fliegen und schwimmen kann, könnten wir das Auto H 2 O nennen. Sie waren einverstanden. Aber das ist nur der Geheimname, sagte ein Junge. Sein richtiger Name ist Camo. Warum Camo? Der Junge zuckte mit den Schultern. Aber Camo galt.
Nach etwa einer Stunde hatten wir eine erste Konzeption. Lou, ein 15jähriges Mädchen auf einer Vulkaninsel im Pazifik, hat Streit mit seiner Mutter. Ihr Vater Max (das also war der Rest meiner St.-Moritz-Idee), ein Erfinder, ist vor sieben Jahren verschwunden. Vermutlich wurde er ermordet, vermutlich in Tokio. Eines Tages spricht ein Auto, Camo, Geheimagent H 2 O, das Mädchen an. (Camo spricht durch den Kühler.) Das Auto ist einmal vom Vater erfunden worden. Camo schlägt Lou vor, sich mit ihr auf die Suche nach dem Grab des Vaters zu machen. Lou soll die Wahrheit erfahren. Auto und Mädchen verabreden sich nachts am Strand. Die Klasse schien zufrieden. Fast alle hatten Ideen formuliert, die eingearbeitet werden konnten. Hinten saß ein Junge, der nichts gesagt hatte. Ich fragte, was noch vorkommen solle. Er zuckte mit den Schultern. Ich sagte, er solle sich etwas wünschen. Ein Skateboarder, sagte er, soll einmal vorkommen. Aus seinem Vorschlag entstand später eine ganze Szene in New York bei einem Skater-Contest. Fast alle Jungen der Klasse schrieben »ihren« Skateboarder, sein Brett, seine Sprünge, seine Kleidung. Da ich mich bei diesem Sport nicht auskenne, bestand ich auf größtmöglicher Genauigkeit. Sie verstanden, daß die Szene ganz und gar von ihnen abhing. Die Szene wurde gut, und Lou verliebte sich in Jack, einen der Skater. Am Ende lernt sein Skateboard fliegen, Geheimagent H 2 O hilft ihm dabei.
Noch waren wir beim ersten Kapitel. Wenn alle zusammen schreiben sollten, brauchten wir eine Struktur. Wir zerlegten die Handlung in Abschnitte: Mädchen im Klassenzimmer bei Schulschluß. Auf der Straße wird das Mädchen vom Auto beobachtet. Mutter allein im Haus. Tagebuch des Vaters. Auto spricht Mädchen an. Für jede Szene fanden sich schnell zwei bis drei Schüler. Ein Mädchen blieb alleine. Sie wählte die Szene der Mutter im Haus. Ich bat die Schüler, sich keinerlei Gedanken über die Rechtschreibung zu machen. Das interessiere mich nicht. Ich wollte ihre Beschreibungen. Und ich brauchte Bausteine, die kompatibel waren. So gab ich die Erzählperspektive der einzelnen Szenen vor. Das Mädchen (es erzählt die erste Szene) und das Auto (erzählt die zweite) sollten in der Ich-Perspektive sprechen. Die Mutter sollte von außen gesehen werden. Der Vater erschien als Schreibender: »Liebes Tagebuch …« Das war nicht schwer zu verstehen und gab den Schülern einen Rahmen. Nach einer halben Stunde lasen sie vor. Die Texte wurden in der Klasse diskutiert. Das Mädchen, das alleine schrieb, hatte die Mutter Diana erfunden. Diana war Architektin, hatte viele Liebhaber, war aber sehr einsam. Sie trank zu viel Alkohol. Ihr Vertrauter war ein Papagei. Wenn sie betrunken war, kreiste er um ihren Kopf. Sie hatte ein Geheimnis. Heldin Lou hatte Probleme mit ihrem Mathematiklehrer Herrn Candy, der beim Sprechen immer spuckte. Das Auto war ein zitronenfarbener
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