Fließendes Land (German Edition)
Mini, Karosserie von 1962. Aber es konnte seine Farbe wechseln, fuhr mit Autopilot, hörte gerne Hardcore Punk. Ich sammelte die Szenen ein. Kostbarkeiten. Unikate. Ich war aufgeregt. Zuhause würde ich daraus das Kapitel zusammensetzen.
Die Schüler füllten einen Projekt-Fragebogen aus. Die meisten waren in der Schweiz geboren, viele hatten Wurzeln in verschiedenen Nationen (Italien, Portugal, Kroatien, Belgien, Österreich), knapp die Hälfte war zweisprachig. Bei der Frage nach der Familie nannte ein Junge seine Mutter und seine Katze. Bei der Frage nach der Zukunft schrieb ein Mädchen »Besserung«. In der Rubrik »Lieblingsspruch« las ich: »hg/gg«. Das heißt, wie ich erfuhr: »hesch guot/gots guot«.
Acht Montagvormittage kam ich in die Klasse, für drei Schulstunden. Meist blieb der Lehrer im Raum. Er beobachtete. Er schrieb Stichworte an die Tafel. Er fragte nach, wenn er spürte, daß sich die Phantasien logisch gegen den bisherigen Plot richteten. Die Schüler korrigierten sich. Manchmal brauchten wir die ganze Zeit, um Szenen zu entwickeln und sie zu erzählen. Dann bekam ich die Texte per Mail. Wenn ich wieder Montag morgens im Zug saß, hatte ich zwar das Kapitel der letzten Sitzung geschrieben, wußte aber nie, wie es weiterging. Ich sah auf die Berge. Ich sah auf den See. Im Klassenzimmer las ich vor (es war jedes Mal eine Prüfung). Die Schüler hörten genau zu, forderten kleine Korrekturen ein. Schreibend hatte ich mich als handwerkliche Instanz gesehen, die auf paradoxe Weise einen Text restaurierte, den es noch nicht gab. Es galt, die Originalstücke zu erhalten, auch das, was zwischen den Zeilen flimmerte. Oft mußte ich auseinanderlaufende Stränge bündeln. Manchmal erfand ich in die Szenen der Schüler hinein atmosphärische Details, die die Stücke zusammenhalten konnten und von denen ich glaubte, sie würden ihnen gefallen. Das meiste davon nahmen sie an, spielten damit motivisch weiter. Was mich wunderte: Ich hatte die Szenen trotz wechselnder Erzählperspektive hart gegeneinandergesetzt. Manche Momente überlappten sich in den verschiedenen Blickwinkeln. Aber sie fanden es unnötig, daß ich Verbindungen schrieb. Sie waren vor Bildschirmen groß geworden, auf denen sich Fenster ineinander und nebeneinander öffneten.
Ortswechsel waren wichtig. Sie wollten in New York, in Tokio »sein«. Sie wollten durch Haie tauchen, über den Himalaya fliegen. Sie recherchierten mit dem Schweizer Weltatlas und am PC im Klassenzimmer Routen und Topographien. Manche Szenen wurden in Zweier- oder Dreier-Gruppen doppelt besetzt. Dann mischte ich, verband. Bei einer Gewaltszene nahmen wir zwei sich ausschließende Varianten auf, eine nicht so brutale und eine sehr brutale; der Leser sollte selbst wählen, welche für ihn galt. (Sie sollten Grausamkeiten schreiben, wenn sie sie schreiben wollten. Aber sie sollten genau sein.) Sie liebten Wirbelstürme, Notlandungen, Explosionen. Immer wieder gab es eine Sehnsucht nach Tieren. Plötzlich war Timo da, ein Beagle, Funktion: Forscherhund, und auch ein Forscherdrache, Frodo, der aber nur hieß wie ein Hobbit aus »Der Herr der Ringe«. Und manchmal schrieben sie poetische, nicht erklärbare Momente, wenn etwa H 2 O durch einen blühenden Kirschbaumwald fuhr und erzählte: »Rechts und links zogen sich nun Mauern hin, auf denen kleine Kätzchen saßen. Immer wieder mußte ich abbremsen und langsamer fahren, sonst erschraken die Kätzchen und fielen runter. Ich paßte auf, und so passierte es nicht oft.«Bei der Frage nach dem Vater erfand ein Junge aus dem Stand seinen bösen Gegenspieler Mister G. Und ich lernte Handlungsstränge zusammenzuführen. Dianas Geheimnis bestand nun darin, die ehemalige Geliebte von Mister G zu sein. Aus dieser Beziehung war Lous Halbschwester Luna hervorgegangen, ein schillerndes Wesen zwischen Brutalität und Verletzung. Fast zwangsläufig waren wir zu archaischen Familienkonflikten gekommen. Nach Diskussionen wurde beschlossen, daß der Vater von Lou noch leben sollte. Im Augenblick, da Diana zu Hause auf der Vulkaninsel sein Tagebuch findet, taucht er in Tokio auf und fliegt mit H 2 O und allen anderen zurück. Die Schüler hatten genaue Vorstellungen vom Happy End. Mister G wurde ausgeschaltet, Diana von ihrer Alkoholkrankheit geheilt (durch die Rückkehr ihres Mannes). Und Luna (die in der brutalen Variante ihren Vater Mister G tötet) wurde von ihrer Mutter Diana und ihrem Stiefvater Max aufgenommen. Am Ende kicken
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