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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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hier etwas erzählt werden, das zu keiner Reportage, zu keinem Essay taugte. Ich habe diese Stücke, die so unter der Hand entstanden, in einer Mischung aus Faszination und Spott betrachtet. Ich hatte so etwas nicht erwartet. Jetzt aber war es da. Und indem ich diese Sprachvaganten ernst nahm und anfing, mit ihnen zu arbeiten, entstand mein erster Roman.
    Schon als Reporterin war ich manchmal zu Lesungen eingeladen worden. Nun aber gehörte ich dazu; nach mehreren Büchern mit Reportagen und Essays hatte mich doch erst die fiktionale Prosa zur Schriftstellerin gemacht. Aber worin lag die literarische Wertschätzung, die mich auf einmal bedachte? Ich schrieb doch nicht anders. Es gab also einen geheimen Inventionsgraben, der erlaubte, noch den schlichtesten Roman selbstverständlich zur Literatur zu rechnen, während eine Reportage qua Genre immer Tagesjournalismus blieb.
    Jeder Reporter weiß, daß es kein Erzählen ohne Fiktionalisierung gibt. (Das liegt im Wesen des Erzählens. Jede Mutter, jeder Vater erfährt es, wenn die Kinder von ihren Feldforschungen nach Hause kommen: so viele zahnluckige Münder um den Küchentisch, so viele Geschichten. Gerade wenn alle dasselbe erlebt haben.) Eine gute, eine anschauliche Reportage ist ein von Grund auf erfundener Text. Schon während der Recherche muß abgewogen werden, welche Personen die Geschichte tragen können, welche Details zu Motiven taugen. Zu klären ist, in welcher Perspektive und Zeitstruktur erzählt werden soll und ob die Geschichte ein leitendes Ich braucht. Wie müssen die Schnitte kalkuliert werden, die das Tempo steuern? Das sind bei weitem nicht alle Fragen, aber ungefähr mit diesen Überlegungen geht es los. Aber fragt der Autor einer Erzählung anders?
    Was die Reportage von den sogenannten fiktionalen Genres grundsätzlich unterscheidet, ist ihr Verhältnis zur Welt. Eine Reportage muß in dem, was überprüfbar ist, stimmen. Aber ist Faktentreue ein Kriterium, das Literatur ausschließt? Wohl kaum. Ein zweiter Unterschied liegt im Verhältnis zum Markt. Wer über den literarischen Markt wehklagt, kennt den journalistischen nicht. Große, aufwendige Reportagen werden meist von Hochglanzmagazinen finanziert, die streng publikumsorientiert arbeiten. Hier kommen »Textpflegeinstanzen« zum Zug, die mit sicherem Instinkt jede ungewöhnliche Wendung gegen eine abgesicherte Alltagsformulierung auszutauschen versuchen. Ich habe aus diesem Grund nicht nur eine Redaktion gewechselt. Aber eben: Man kann wechseln. Und die Probleme des verstümmelnden Lektorats sind nicht genreabhängig.
    Vielleicht macht es, in den Reihen der Literatur, die Reportage verdächtig, daß sie verständlich sein soll. Ich zähle mich zu den realistischen Autoren; ich habe Klarheit gerne und verbeuge mich vor dem Geheimnis, das in jeder gelungenen Form liegt. (Wer immer noch streng am Inkommensurablen der Kunst festhält, läuft Gefahr, ästhetisch schwer enttäuscht zu werden, wenn er sich vor dem Umkehrschluß nicht hütet.)
    Was aber ändert sich jetzt beim Erzählen, wenn der Boden der faktischen Nachprüfbarkeit verlassen wird? Hat das Folgen für die Struktur des Textes? Ich schlage für die weitere Überlegung einige Beispiele vom eigenen Schreibtisch vor. Fangen wir vor dem Erzählen an. Beginnen wir beim Essay. Fraglos gibt es essayistische Romane, und im Zweifelsfall sind die Übergänge fließend. Aber ganz grob kann gesagt werden, daß im Unterschied zu den erzählenden Genres der Essay keine Raumerfahrung vermittelt. Das gibt ihm eine ungeheure Freiheit. Er kann ungebunden Ideen, Bilder, Zitate, narrative Inseln aufnehmen, ohne sie in eine Erlebnisdimension einbetten zu müssen. In ihm vollzieht sich keine Handlung. Hier sind es die Einfälle, die freien Assoziationen, die sich bewegen, keine Menschen, die mit sich oder anderen umgehen. Anders gesagt: Immer wenn der Leser eine Raumvorstellung assoziiert, befindet er sich in einer Erzählung oder zumindest in einer erzählenden Passage. Auch damit kann der Essay spielen.
    »Die schönen Dinge«, sagt Kant, zeigen an, »daß der Mensch in die Welt paßt.« Was schön ist, lädt uns ein, da zu sein und dazubleiben. Wir dürfen ihm vertrauen. Die schönen Dinge trösten uns. Umso schlimmer, wenn wir beim Betreten eines Hotelzimmers mit instinktiver Sicherheit wissen, daß wir sofort wieder gehen sollten. Wir bleiben, denn das Zimmer ist einfach und doch eigentlich in Ordnung. Jemand hat gelüftet, das Bett ist frisch

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