Fließendes Land (German Edition)
bezogen, der kleine Tisch vor das Fenster gerückt, wo hinter den Gardinen tief unten der Frieden eines leeren Innenhofes liegt. Es ist fast gemütlich. Was also gibt diesem Raum die besondere Aura einer abstürzenden Häßlichkeit? Wir sitzen auf der Bettkante, und der ganze Jammer des mühevoll Ordentlichen schaut zurück. Dezente Brandlöcher, wiederholt abgesaugt und ausgefranst, Gilbspuren von Verschüttetem, die jeder Shampoonierung standgehalten haben, bei der Tür die schattige Trittspur früherer Gäste, an den Randleisten Aufwerfungen. Das leise Elend des alten Teppichbodens schickt uns zweifellos fort, es zeigt an, daß wir mit der Welt zerfallen können.
Ein Essay über das Phänomen Teppichboden kann mit einem Kant-Zitat in einem Hotelzimmer beginnen und über den lumpigsten Erscheinungsformen der Auslegeware die Existenzfrage stellen. Er darf in der Folge verschiedene Formen von Gebrauchsspuren an anderen Materialien zitieren (Bodenkacheln, Holzdielen, afrikanischer Lehmboden) und bei der Frage des prekären Alterns landen. Von hier kommt er leicht zum Altern von Blumen, die das mit weniger (Maiglöckchen) oder mehr (Hortensie) Anmut leisten. Und schon ist der mäandernde, springende Essay bei Rilkes Sonett und dem Einfall, daß es zwar Gedichte auf Orientteppiche gibt, aber keine auf den Teppichboden. Am Schluß landet er beim Teddybären:
Ein Teddybär, zum Beispiel, aus Plüsch oder Wollflor ist – vom Material aus gesehen – sein unmittelbarerer Verwandter. Aber der verträgt eben alles. Abgeknutscht, klebrig, schmutzig verzaust sind ihm die innigsten Plätze sicher. Ein alter Teppichboden aber tröstet niemanden. Und es rettet ihn kaum die Liebe. Er bleibt allein merkwürdig.
In den Sprachschleifen des Essays wird der Teppichboden zwischen Kant und Teddybär zum Grund, um über die Schönheit, das Alter und die Liebe zu sprechen. Ein Essay kann jede Materialschlacht wagen. Was ihn zusammenhält, ist nicht einmal ein roter Faden. Ihn stützen ein paar rote Punkte vielleicht und die Haltung, der Atem dessen, der spricht. So darf ein Essay alles, was er stilistisch trägt. Die Reportage hingegen darf, unabhängig von ihrem sprachlichen Niveau, vor allem sehr vieles nicht. Im Vergleich zum Essay ist sie eine strenge, ja keusche Kunstform.
Bleiben wir auf dem Teppichboden. In einer Auftragsarbeit über die Zimmermädchen im Berner Staatshotel Bellevue Palace habe ich versucht, die scheinbar selbstverständlichen und von keinem Gast reflektierten Handgriffe sprachlich umzusetzen und so sichtbar zu machen. Wer diese Reportage gelesen hatte, sollte kein Hotelzimmer mehr betreten, ohne die Arbeit zu sehen, die in einem sauberen Zimmer steckt.
Jetzt Fenster schließen, Vorhänge zuziehen, Übervorhänge ausrichten. Mirijana geht zum Zimmermädchenwagen und holt den Eimer und den Besen mit dem Putzlappen. Die Gästehandtücher im Bad fliegen auf den Boden, die Klobürste kommt in die Toilette und wird mit ein wenig Reiniger übergossen. Sie zieht den Abflußstöpsel aus den marmornen Becken und entfernt die Haare, putzt und trocknet die Flächen, die Zahnputzgläser. Sie steigt in die Badewanne und entfernt die Kalkspritzer von der gläsernen Tür, dann beugt sie sich von außen in die Wanne, schäumt die Wannenwände ein, spült nach, trocknet ab. Sie putzt die Spiegel und den runden Vergrößerungsspiegel, wickelt das Kabel des Föhns auf und hängt ihn in die Halterung. Die Toilettenschüssel wird von innen, dann von außen gewischt. Die Ecken des Bodens fährt sie in der Hocke nach. Sie nimmt die alten Handtücher fort und bringt neue.
Sie hat sich gemerkt, welche Gästeauflagen fehlen, und hat Ersatz dabei. Wenn sie sich täuscht, läuft sie dafür zweimal.
Einige Tage bin ich selbst – Röckchen, Schürzchen – mit den Zimmermädchen losgezogen, habe in der Kantine gegessen und habe, was ich sah und hörte, aufgeschrieben. (Auch das wird leicht vergessen: Jede Reportage ist ein autobiographischer Text.) Gerade die Szene, in der ein Zimmer geputzt wird, erwies sich bei der Verschriftlichung als extrem schwierig. Denn was geschieht, ist ja langweilig. Und genau das war das Thema. Ich habe – den Auftrag und die Zimmermädchen abwechselnd verfluchend – meinen Text immer wieder umgeschrieben und zunehmend versucht, ihn über den Rhythmus zu dramatisieren, damit das völlig unspektakuläre Geschehen einen Sog entwickelte:
In der Natur wächst Symmetrie; in einem Hotel ist sie Handarbeit: unter
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