Fließendes Land (German Edition)
die Waschbecken je ein feines Handtuch und ein Frotteetuch, auf die Waschbecken je ein Lavette, einen Schuhputzschwamm, eine Nagelfeile, das pfirsichfarbene Fläschchen, das blaue, die Duschhaube. Auf den Badewannenrand zwei Badezimmerteppiche, doch so, daß die Schrift »Bellevue Palace Bern« über beide hinwegläuft. Gut lesbar und sich in der Schrift ergänzend müssen auch die beiden Badehandtücher über den silbernen Radiatoren hängen. Mirijana schaut sich um. Mit dem umwickelten Besen geht sie abschließend über den Boden. Es ist 8.05 Uhr. Eines von 17 Zimmern ist fertig.
Mirijana ist keine Romanfigur? (Sie könnte gut eine werden. Sie könnte auch in diesem lakonischen Reportagestil eine werden.) Die junge Frau, die von der Schweiz aus ihre Familie in Jugoslawien ernährt, steht hier exemplarisch für ein wirtschaftlich-soziologisches Phänomen. Es geht in der Reportage nicht um ihre (vermutliche) Sehnsucht nach Kind, Mann und Heimat, es geht um ihre Arbeit, die natürlich auf dem nur angedeuteten Hintergrund ihrer sozialen Isolierung eine zusätzliche Schärfe bekommt. Ein Blick auf eine verwandte Szene aus dem Roman, im Innenraum einer Wohnung, macht sofort deutlich, wo sich die Reportage eine Zurückhaltung auferlegen mußte, die der Roman nicht kennt:
Im Flur war es dunkel, die Jalousien im Wohnzimmer und in der Küche waren heruntergelassen worden, wohl um die Hitze draußenzuhalten. Johanna kurbelte die schweren Vorrichtungen hoch, schob im Wohnzimmer die bodenlangen Gardinen zur Seite und öffnete ein Fenster. Die Hitze schlug ihr entgegen. Sie ging zurück und kippte den Plastiksack in den Flur. (…) Sie sollte etwas tun; die Krankenhauswäsche lag im Flur. Sie ging ins Badezimmer, knipste das Licht an, nahm das Frotteedeckchen von der Waschmaschine und öffnete den Deckel. Sie überlegte, ob sie zuerst eine 40 Grad-Wäsche waschen sollte oder eine 60 Grad-Wäsche. Sie ging ins Schlafzimmer, um nach Wäschestücken zu sehen, die in ihrer Temperaturverträglichkeit zu denen aus dem Krankenhaus passen würden. (…)
Noch bevor sie ein Wäschestück berührt hatte, kam der Geruch. Ein blasser vertrauter Muttergeruch. Johanna wußte, daß ihre Mutter eine peinlich saubere Frau gewesen war. Doch getragene Nylon- oder Perlonstrümpfe riechen, Kittelschürzen mit Flecken von Essensspuren, in den Taschen vergessene Taschentücher. Trevirapullover, Söckchen. Sie sortierte die Kleider auf dem Teppichboden des Flurs. (…) Der vage, vertraute Geruch packte sie. Der Geruch hatte sich selbständig gemacht, er war monströs geworden, er hatte die tote Mutter überstiegen. Bevor sie es begriff, hatte sie ihn in den Lungen und atmete ihn aus, um ihn wieder einzuatmen. Sie atmete die Mutter. Und die tote Mutter atmend überkam sie eine haltlose Übelkeit.
Hier geht es nicht um die Handgriffe eines Arbeitsprozesses, sondern darum, daß eine Frau nach dem Tod ihrer Mutter in der Wohnung der Toten nicht weiß, was sie tun soll. Indem sie anfängt, irgendetwas zu tun, nämlich Wäsche zu waschen, gerät sie in den Sog der Kleider, in den Sog der mit Dingen vollgestopften Wohnung, die für sie zu Auslösern der Erinnerung werden. Nicht die Recherche, nicht die Sorgfalt im Hinsehen, nicht einmal die stilistischen Techniken trennen für mich eine Reportage von Kurzgeschichte, Erzählung oder Roman. Den Unterschied macht eine kleine Drehung hin zu psychischen Prozessen. Es sind wenige Grade rückhaltloser Aufmerksamkeit mehr. Mit Erfinden in einem emphatischen Sinn hat das nichts zu tun, eher mit Zulassen. Zulassen von Bildern, von Empfindungen, von Sätzen auch. Eine Formulierung wie »Sie atmete die Mutter« ist nur die Umsetzung einer sehr konkreten Erfahrung beim Sortieren der getragenen Wäsche. In einer Reportage wäre dieser Satz suspekt; im Roman aber bewährt sich die Reportertreue zu Details, ohne die sich die radikalen Räume des Empfindens nicht öffnen würden. Damit aber ist der Roman eine Reportage aus der Intimität.
»Kennen Sie Ihre Figuren?« fragte mich nach einer Lesung einmal scheu ein Herr, von dem ich vermute, daß er ein Deutschlehrer war. Die Frage hat mir sehr gefallen. Denn jetzt wußte ich noch eine Antwort, warum ich schreibe: Nein, ich kenne meine Figuren nicht. Sie fallen mir auf oder sie fallen mir ein. Sie nehmen mich mit. Ich notiere alles. Und dann schreibe ich, um sie kennenzulernen.
Lou und Geheimagent H 2 O, oder wie ein Schulhausroman entsteht
Ein Anruf aus Zürich. Ich
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