Fluch der Engel: Roman (German Edition)
gesehen hätte.
»Komm mit, ich hab eine Lösung für dein Problem gefunden«, forderte er mich auf, ihm zu folgen.
Anstatt wie die letzten beiden Tage wieder ins Verlies führte Aron mich auf den alten Burghügel hinter dem Schloss, wo ich normalerweise mein Kampftraining absolvierte. Wie immer erstarben sämtliche Geräusche, als ich neben Aron in den mit Fackeln erhellten Kreis der Linden trat. Sogar das Quaken der Frösche im Burggraben verstummte. Die abschirmende Wirkung des darunterliegenden Verlieses wirkte selbst hier oben noch.
Angespannt befolgte ich Arons Befehl, setzte mich auf die am Boden ausgebreitete Decke und beobachtete, wie Aron zwischen den Linden hin und her lief.
»Sanctifer weiß, dass Christopher an dich gebunden ist«, begann er. »Außerdem kennt er Christophers Schwachstellen so gut wie kein anderer – deine dagegen kennt er nicht. Dass du nur dann Zuflucht in deinem Schattenwesen suchst, wenn du emotional angegriffen wirst, verschafft dir einen enormen Vorteil.«
Endlose Stunden im Verlies hatte Aron gebraucht, um das herauszufinden. Anfangs hatte er mich gebeten, meine Schattengestalt anzunehmen. Später mir gedroht, mich so lange hier unten einzusperren, bis mir die Verwandlung gelang. Doch weder seine Bitte noch der Versuch, mich wütend zu machen, waren erfolgreich gewesen.
Schließlich hatte er behauptet, Christopher zu holen, um ihn in mein Sanctifer-Problem einzuweihen. Danach war er durch die Schutzbarriere gestürmt, die kein Schattenengel passieren konnte – und ich war endlich ausgerastet: Ich erreichte die Barriere kurz nach Aron. Im Gegensatz zu ihm ließ sie mich nicht mehr durch. Wäre er nicht umgekehrt, um mir zu schwören, lieber selbst zu Sanctifer zu gehen, als Christopher zu ihm zu lassen, würde ich jetzt vermutlich nicht auf dem Burghügel, sondern als Monster im Verlies sitzen.
Christophers Experiment, mir seine Schattenseite zu offenbaren, um mich davon abzuhalten, ein Schattenengel zu werden, hatte funktioniert – mit einer Ausnahme. Abgesehen von meiner ersten und einzigen Verwandlung weigerte sich meine Engelseele, dem dunklen Teil in mir die Kontrolle zu überlassen. Deshalb – und vielleicht auch mangels Übung – konnte ich mich im Gegensatz zu Christopher auch nicht willentlich verwandeln. Nur wenn ich keinen anderen Ausweg sah, weil meine Gefühle mich beherrschten, verspürte ich den Drang, dem dunklen Teil in mir nachzugeben.
»Doch erst wenn es dir gelingt, sowohl deine Träume als auch deine Gefühle zu verschließen, besteht die Chance, dass Christopher nichts davon mitbekommt, wenn Sanctifer versucht, dich in deinen Schatten zu zwingen.«
Aron war stehen geblieben. Ich wich seinem durchdringenden Blick aus. Er wollte, dass ich Christopher hinterging.
»Allerdings wird mein Plan nur dann funktionieren, wenn du bereit bist, mir zu vertrauen. Und bevor du nachfragst: Sobald es dir gelingt, dich vor mentalen Zugriffen zu schützen, werde ich dich einweihen. Denn das ist es, was du brauchst, um das Jahr bei Sanctifer heil zu überstehen.«
»Und wenn ich das nicht schaffe? Wie willst du Christopher daran hindern, meinen Platz einzunehmen?« In diesem Punkt brauchte ich absolute Sicherheit.
Aron zögerte. »Es gibt nur einen Weg, einen Racheengel zu bändigen.«
»Angekettet und umgeben von einem Schutzwall.« Der Gedanke an das Verlies, in dem Aron mich gefangen gehalten hatte, während ich zu einem Racheengel wurde, ließ mich frösteln.
»Ja«, bestätigte Aron. »Doch es ist nicht dasselbe, ein unfreiwilliger Gast bei mir zu sein, wie als Schatten unter Sanctifers Einfluss zu stehen.«
Mein Herz wurde schwer. Lieber würde ich sterben, als zuzulassen, dass Sanctifer Christopher quälte. »Versprich mir, alles zu tun, falls er … falls Christopher …« Meine Stimme wollte nicht aussprechen, wovor ich mich fürchtete.
»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit er ein Engel bleibt«, schwor Aron.
»Oder wieder wird«, flüsterte ich.
Abgesehen von den Essenszeiten dezimierte sich meine freie Zeit auf nahe null. Um den See laufen mit Christopher, anschließend Frühstück mit ihm und meinen Freunden im Gelben Haus, Intensivlernkurse, gemeinsames Mittagessen, Unterricht oder Abiball-Deko-Teamtreffen ohne Christopher, Krafttraining mit Christopher, Kaffeepause, Lernen im Zimmer, Abendessen. Danach, anstatt Pause, von Aron aufgebrummte Nachhilfe fürs Abi mit Christopher – im Gemeinschaftsraum! – und seit neuestem:
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