Fluch der Nacht: Roman
diesem Augenblick, sie hätte sie zurückgelassen, weil sie so überzeugt war, dass sie recht hatte. Die Höhle war hier, sie brauchte nur den Eingang zu entdecken.
»Nenn es, wie du willst«, erwiderte Gerald ungehalten. »Es wird dunkel, und hier ist nichts als Nebel. Und dieser Nebel ist gespenstisch, Lara. Wir sollten machen, dass wir von diesem Ort verschwinden.«
Lara warf den beiden Männern einen ungeduldigen Blick zu und sah sich noch etwas genauer die Landschaft in ihrer näheren Umgebung an. Glitzerndes Eis und Schnee bedeckten die umliegenden Berge wie ein weißer Mantel aus funkelnden Juwelen, und trotz der zunehmenden Abenddämmerung konnte sie in dem Tal tief unter ihnen Burgen, Farmen und Kirchen sehen. Auf den Weiden grasten Schafe, und in der Ferne wälzte sich ein stark angeschwollener Fluss dahin. Über ihnen kreisten Vögel, Unmengen von Vögeln, die sich kreischend auf sie herabstürzten, nur um im letzten Moment wieder abzudrehen und ihr Kreisen wiederaufzunehmen. Ein kalter, böiger Wind schlug ihr ins Gesicht und gegen jedes Stückchen unbedeckter Haut, zerrte an ihrem langen, dicken Zopf und erfüllte die Luft mit seinem Heulen. Hin und wieder löste sich ein Fels am Berg und stürzte den Hang ins Tal hinunter. Einmal landeten der mitgerissene Schmutz und Schnee ganz in der Nähe ihrer Füße.
Laras besorgter Blick glitt über die wilde Landschaft unter ihnen. Schluchten und Klammen durchschnitten die schneebedeckten Berge, Pflanzen klammerten sich seitlich an die schroffen Felsen und zogen sich ungeschützt über die Hochebene dahin. Lara konnte die Eingänge zu mehreren Höhlen erkennen und fühlte sich so stark von ihnen angezogen, als versuchten sie, sie zu sich hinzulocken. Die wassergefüllten Mulden und Vertiefungen im Boden weiter unten bildeten kleine, dunkle Torfmoore mit grün bemoosten Uferstellen, die in krassem Gegensatz zu den verdorrten braunen Gräsern um sie herum standen. Aber Lara musste hier bleiben – an dieser Stelle und an diesem Ort. Sie hatte die geografischen Gegebenheiten sehr gewissenhaft studiert und wusste, dass sich tief in der Erde eine enorme Anzahl von Eishöhlen gebildet hatte.
Je höher sie stieg, desto kleiner wirkte alles unter ihr und desto dichter wurde der weiße Nebel um sie herum. Bei jedem ihrer Schritte bewegte sich fast unmerklich der Boden unter ihren Füßen, und die Vögel über ihr kreischten noch ein bisschen lauter. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, aber das etwas mulmige Gefühl in ihrer Magengrube und die innere Stimme, die sie unentwegt zum Gehen drängte, bevor es zu spät war , sagten ihr, dass dies ein Ort der Macht war, der sich selbst vor Eindringlingen schützte. Und obwohl der Wind unvermindert weiter blies und heulte, blieb der Nebel ein dichter Schleier, der den oberen Teil des Berges verhüllte.
»Komm schon, Lara!«, versuchte Terry es erneut. »Nachdem wir ewig gebraucht haben, um die Genehmigungen zu erlangen, können wir nicht endlos Zeit auf das falsche Gebiet verschwenden. Du siehst doch selbst, dass hier nichts ist.«
Es hatte Lara diesmal wirklich beträchtliche Mühe gekostet, die Genehmigung für ihre Studie zu erlangen, aber sie hatte wie immer ihre besonderen Gaben angewandt, um die, die anderer Meinung waren als sie, davon zu überzeugen, dass der globalen Erwärmung wegen eine schnellstmögliche wissenschaftliche Untersuchung der Eishöhlen absolut vonnöten war. Einzigartige Mikroorganismen, sogenannte Extremophile, gediehen in der rauen Umgebung dieser Höhlen, weit entfernt von Sonnenlicht oder traditionellen Nährstoffen. Wissenschaftler hofften, dass diese Mikroben im Kampf gegen Krebs eingesetzt werden könnten oder sich mit ihnen vielleicht sogar ein Antibiotikum herstellen ließe, das imstande wäre, die neu entdeckten multiresistenten Erreger zu vernichten.
Laras Forschungsprojekt war voll finanziert, und obwohl sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch als ziemlich jung galt, wurde sie doch schon als die führende Expertin auf dem Gebiet der Eishöhlenforschung und -erhaltung anerkannt. Sie konnte mehr Stunden der Erforschung, Untersuchung und Kartografierung von Eishöhlen auf der ganzen Welt für sich verbuchen als die meisten anderen Forscher, die doppelt so alt waren wie sie. Und sie hatte auch mehr multiresistente Erreger entdeckt als jeder andere Höhlenforscher.
»Findest du es nicht komisch, dass uns gerade hier in dieser Gegend niemand haben wollte? Sie hatten nichts dagegen, uns
Weitere Kostenlose Bücher