Fluch der Nacht: Roman
und blitzschnell zog er Lara hinter sich. Sie strich mit der Zunge über die Wunde an ihrem Handgelenk, um sie mit den heilenden Substanzen in ihrem Speichel zu verschließen.
Der Geruch verwesenden Fleisches kündigte Xaviers Erscheinen an. Sein ausgemergelter Körper war gebückt, und mit einer Hand umklammerte er einen Gehstock, als er in die saalartige Kammer schlurfte. Dieser Stock war eine erstaunlich wirkungsvolle Waffe, die dazu benutzt werden konnte – und wurde -, Schmerzen zuzufügen. Die langen Gewänder, die den abgezehrten Körper bedeckten, raschelten bei jedem Schritt und schleiften über den Boden, wo sie kleine Eiskristalle aufnahmen, die sich als glitzernd weiße Splitter und Fragmente an dem Saum absetzten. Der lange weiße Bart reichte dem alten Mann fast bis zur Taille. Sein Bild war verschwommen, weil er sich bewegte, aber wenn Lara ihre Augen anstrengte, konnte sie das verfaulende Fleisch unter der glanzvollen Staffage sehen.
Lara spürte die Welle der Macht, die ihr entgegenschlug, und wusste, dass sie mehr von dem Gehstock als von ihrem Urgroßvater ausging. Razvan duckte sich ängstlich vor dem alten Mann, als er sich ihnen näherte. Xavier war der älteste aller Magier, der sowohl die schwarze als auch die weiße Magie beherrschte. Seine Lehren waren nicht nur Grundlage für die Spezies der Magier gewesen, sondern auch für die der Karpatianer. Laras Tanten hatten sie mit der furchtbaren Familiengeschichte vertraut gemacht, die Entführung, Schändung, Mord und Krieg umfasste. Und alles nur wegen dieses einen Mannes und seines Strebens nach Unsterblichkeit.
Xavier streckte einen dünnen Arm nach ihr aus, dessen Finger mager wie Knochen waren und die Nägel lang und nach innen gebogen wie Krallen. Mit diesen Fingern winkte er ihr, zu ihm zu kommen.
Razvan stieß Lara weg. »Du wirst sie nicht anrühren. Du hast deinen eigenen Vorrat.«
Komm näher, Lara, während sie sich um dich streiten. Komm an die Wand heran und hilf uns auszubrechen!
»Ich kann die anderen nicht mehr benutzen, wie du sehr wohl weißt. Sie sind zu mächtig geworden, um sie zu beherrschen. Ich brauche das Buch. Wir müssen es finden.« Xavier humpelte näher an Lara heran und streckte seine klauenähnlichen Finger nach ihr aus. »Wenn ich das Buch habe, werden sie sich mir nicht mehr widersetzen können.«
Razvan schob Lara noch weiter hinter sich. »Die hier gehört mir, und du wirst sie nicht angreifen.«
»Bilde dir ja nicht ein, du könntest mir Befehle erteilen!« Xaviers Stimme hallte von den vereisten Wänden wider. Er richtete sich nun zu seiner vollen Größe auf, während Razvan regelrecht vor ihm zu schrumpfen schien. »Ich werde alt, aber ich habe noch meine Fähigkeiten und du nicht.«
Während Lara sich langsam immer näher an die Wand heranschob, nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und bündelte die Energie im Raum.
»Du hast ja nicht mal mehr deine eigenen Kinder unter Kontrolle, alter Mann. Obwohl sie sterbenskrank sind, widersetzen sie sich dir doch immer noch. Du hast mich gezwungen, dir meine Nachkommen zu bringen, aber diese Kleine hier kannst du nicht haben. Du bringst sie alle um mit deiner Gier.«
»Du wirst sie mir geben.« Xavier schwang seinen Stock, bis dessen Spitze auf seinen Enkel zeigte.
Lara nutzte den Moment, um dem Stock so viel Energie zu entziehen, wie sie nur konnte, und richtete sie auf die Wand aus Eis. Gleichzeitig verbanden ihre Tanten ihre Macht mit ihrer, und die massive Eiswand dehnte sich in Richtung Kammer aus. Große Splitter sprangen ab, als die Wand von einem Spinnennetz von Rissen überzogen wurde und das Eis zerbrach.
»Halt sie auf, Razvan!« Xavier sprang zur Seite, um sich vor dem zersplitternden Eis in Sicherheit zu bringen.
Ein leuchtend roter Drache durchbrach das Eis und schlug mit seinen scharfen Krallen nach Razvan, während der blaue Drache für Lara einen seiner Flügel senkte.
Jetzt, Lara! Schnell! Steig auf! , rief Tante Tatijana ihr zu.
Laura zögerte nicht. Leichtfüßig sprang sie auf den blauen Flügel, kletterte daran hinauf und schwang ihr Bein über den Nacken des Drachen. Sofort erhob er sich auf die Hinterbeine, schlug schnell und hart mit seinen mächtigen Flügeln und entfachte einen Sturm mit ihnen, der beide Männer rückwärts auf den Boden warf. Xavier verlor dabei seinen Gehstock aus der Hand. Lara konzentrierte sich darauf, lenkte den Wind auf den dicken, hölzernen Stab und sah, wie er zur anderen Seite der Eiskaverne
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