Fluch, Der: Roman
Kopf. Der Traum fiel ihm wieder ein. Linda in seiner Bürotür. Das blutende Loch mitten in ihrem Gesicht. Der Mantel ... er gehörte gar nicht Heidi. Er war ihm nicht bekannt vorgekommen, weil sie früher einmal so einen gehabt hatte, sondern weil Linda heute so einen besaß.
Er wirbelte herum und öffnete die obere Schublade rechts neben dem Waschbecken. Da war ihre Haarbürste. Auf dem roten Plastikgriff war ihr Name eingraviert: LINDA. Schwarze Haare hingen zwischen den Borsten.
Benommen rannte er den Flur entlang zu ihrem Zimmer.
Das Herumtreibervolk ist immer bereit, diese Dinge zu arrangieren, mein Freund ... dazu ist es ja schließlich da.
Ein Arschloch, William, ist ein Mensch, der nicht glaubt, was er sieht.
Billy stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf, und fand seine Tochter friedlich schlafend im Bett. Den einen Arm hatte sie quer übers Gesicht gelegt, im anderen hielt sie ihren Teddy Amos.
Nein. O Gott, nein. Nein.
Er hielt die Tür an, die hin und her schwang. Was immer er auch sein mochte, er war bestimmt kein Arschloch. Er sah und glaubte alles. Ihre graue Wildlederjacke hing über der Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls. Der Samsonitekoffer stand mit offenem Deckel mitten im Zimmer. Jeans, Unterwäsche, Blusen und Shorts quollen in völliger Unordnung aus ihm hervor. Am Griff klebte ein Greyhoundbus-Aufkleber. Er sah sogar noch mehr. Die Rosen neben der Uhr auf Heidis Spiegeltisch. Als er sich zu Bett gelegt hatte, waren sie noch nicht dagewesen. Nein ... Linda hatte sie mitgebracht als Friedensangebot für ihre Mutter. Sie war extra früher nach Hause gekommen, um mit ihr ins reine zu kommen, bevor Billy hier eintraf.
Der alte Zigeuner mit der abfaulenden Nase: Keine Schuld, sagst du, keine Schuld. Das redest und redest und redest du dir ein. Aber es gibt keinen Puush, weißer Mann aus der Stadt. Jeder zahlt, sogar für Dinge, die er gar nicht getan hat. Kein Puush.
Er wandte sich um und rannte die Treppe hinunter.
Nicht Linda, mein Gott, bitte nicht Linda!
Jeder zahlt, weißer Mann aus der Stadt ... sogar ...
Denn das ist's, worauf es wirklich ankommt.
Die Tortenreste standen auf der Theke. Heidi hatte sie sorgfältig mit Klarsichtfolie zugedeckt. Etwa ein Viertel war aufgegessen. Auf dem Küchentisch stand Lindas Handtasche - eine Reihe von Kockstar-Buttons steckte am Riemen: Bruce Springsteen, John Cougar Mellancamp, Pat Benater, Lionel Richie, Sting, Michael Jackson.
Er ging zur Spüle. Zwei Teller.
Sie haben hier gesessen, die Torte gegessen und sich miteinander versöhnt, dachte er. Wann? Gleich nachdem ich eingeschlafen bin? Muß wohl so gewesen sein.
Er hörte den Zigeuner lachen, und ihm knickten die Knie ein. Er mußte sich an die Theke klammern, um nicht umzu-fallen.
Als er wieder Kraft gewonnen hatte, ging er durch die Küche und trat dabei auf das knarrende Bodenbrett.
Die Torte atmete wieder – auf und ab, auf und ab. Ihre obszöne Wärme hatte die Folie von innen beschlagen lassen.
Er hörte ein leises, glucksendes Geräusch.
Billy Halleck öffnete die quietschende Schranktür und holte sich einen Dessertteller heraus. Dann zog er rasselnd die Schublade auf und nahm sich Messer und Gabel.
»Warum nicht?« flüsterte er zu sich selbst und schlug die Folie zurück. Die Torte lag wieder ganz still. Nur eine harmlose Erdbeertorte, die selbst zu dieser frühen Morgenstunde sehr verlockend aussah.
Und, wie Heidi schon gesagt hatte, zur Zeit brauchte er alle Kalorien, die er essen konnte.
»Guten Appetit«, sagte er in die sonnige, morgendliche Stille seiner Küche und schnitt sich ein Stück von der Zigeunertorte ab.
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