Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Morgensonne vor Frische zu glänzen begann. Sie trat vor den Spiegel. Ihre Muskeln, ihr Fleisch waren noch fest, nur die gealterte Haut hier und da schlaff geworden, Kopf- und Schamhaar ergraut, die zierlichen Hände von leider immer größeren braunen Altersflecken bedeckt.
Sie steckte die Haarsträhnen, die sich vereinzelt gelöst hatten, wieder fest und goss dann das Wasser aus zwei großen Porzellankrügen in eine flache Metallwanne, den Tub, der wie eine überdimensionale Bratpfanne ohne Stiel aussah und den Edgar Degas gut zwanzig Jahre später durch eine fast schon obsessive Serie von Aktgemälden unsterblich machen würde. Um sich im Tub den Schweiß und die Nachtruhe abzuwaschen, bedurfte Eileen Clairborne aller akrobatischen Fähigkeiten, die sie soeben eingeübt hatte. Sie war jedoch noch nicht zum Einseifen gekommen, als ein zögerndes Klopfen ertönte.
Das ärgerte sie, denn ihr Personal hatte die strikte Anweisung, sie um diese Stunde nicht zu stören, es sei denn in einem Fall von außerordentlicher Wichtigkeit. Gleichzeitig freute sie sich, dass dieser mit zunehmendem Alter immer seltenere Fall offenbar noch einmal eingetreten war.
»Ja?«
»Ein Brief ist abgegeben worden, Madame!«
»Schieb ihn unter der Tür durch, Molly.«
Ein feines Kratzen am Türspalt verriet, dass dieser Befehl prompt befolgt wurde, und da niemand da war, der ihre Ungeduld tadeln würde, ging Eileen Clairborne nackt und tropfnass zur Tür, hob den Brief auf und öffnete seinen Umschlag. Sie las die Botschaft auf dem
kleinen Zettel darin, und ihre Augen schienen plötzlich den Raum zu erhellen.
Noch einmal trat sie vor den Spiegel, löste aber diesmal ihr volles graues Haar, das ihr bis über Schulterblätter und Brüste reichte. Zweifelnd, zögernd und noch immer feucht vom Wasser legte sie sich dann wieder auf ihr Bett. Mit geschlossenen Augen roch sie an dem Brief, roch Tabak und etwas wie Eisen, nahm ihn dann leicht zwischen ihre Lippen und tat etwas, das sie seit Jahren nicht mehr getan hatte: Sie streichelte sich, ihren Schoß, die Schenkel, den Bauch und ihre Brüste.
Ein Lächeln glättete die Falten auf ihrer Stirn, und sie sah sowohl in ihrer Erregung wie auch in ihrer Befriedigung wunderschön aus; wie ein alter Baum, der im Frühling noch einmal Blüten treibt. Erst danach las sie den Brief zum zweiten Mal.
Chère Madame!
Ergebenste Grüße aus einer lange vergangenen Zeit, die ihn nun eingeholt hat, sendet Ihnen der Unterzeichnete. Sie werden sich zweifellos an unser kleines Abkommen erinnern, und so die entsprechenden Papiere noch in Ihrem Besitz sind, würden Sie mir sehr helfen, wenn Sie baldmöglichst damit in der Central-Polizeistation hier am Ort vorsprechen könnten.
Es küsst Ihre Hände, der in seiner Jugend das Glück hatte, Ihr Freund zu sein, und es immer geblieben ist,
J’n Laffitte
74.
Am selben Morgen, zur selben Zeit, eine Stunde nach Sonnenaufgang, hundert Meilen weiter im Norden, hundertundfünfzig, wie der Fluss fließt, schlug auch Marie-Therese Helisena Milisande Bonneterre ihre Augen auf und wusste sofort, dass ein hektischer Tag vor ihr lag. Kurz nach Mittag musste man in Baton Rouge sein, eine gute Stunde später – vermutlich, denn auch die großen Dampfschiffe
konnten ihre Fahrpläne nur ungefähr einhalten – auf der Big Missourie und dem Weg nach New Orleans.
Das Telegramm war gestern am späten Abend gekommen, heute Nacht schon würde man zur Stelle sein. Wer schneller war, musste fliegen können. Madame Bonneterre erhob sich, saß kerzengerade auf dem Bettrand und tastete mit den Füßen nach ihren Pantoffeln. Mit klarer Stimme, aber nachtsaurem Atem befahl sie auch ihrem Mädchen, nun endlich aufzustehen.
Darioleta schlief wie ein Baby, seit der junge Herr fort war, was wahrscheinlich daran lag, dass sie keine Angst vor dem Aufwachen hatte. Die alte Misses hatte sie in ihr Zimmer genommen, um sie, wie die alte Misses sagte, nicht in die Versuchung zu führen, den jungen Männern in den Sklavenunterkünften die Köpfe zu verdrehen. Die alte Urganda, Aufwartefrau seit mehr als dreißig Jahren, hatte statt ihrer den schweren Weg in die Sklavenhütten antreten müssen, und Darioleta machte sich die berechtigte Hoffnung, dauerhaft Urgandas Platz einzunehmen und nie wieder zu dem jungen Herrn befohlen zu werden.
Die Mitteilung, dass sie die alte Misses auf eine Reise in den Süden, ins große New Orleans begleiten würde, war erst gestern eingetroffen und
Weitere Kostenlose Bücher