Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Neuseeland niemand mehr lesen mochte.
Wenn Neuseeland der letzte Außenposten der britischen Zivilisation war, dann war Chatham der letzte Außenposten Neuseelands, und einen Begriff von seiner Isolation konnte sich Captain William Edward Thomas leicht machen, indem er sich sarkastisch vor Augen führte, wie viele Leute in Europa wohl auch nur von der Existenz Chathams wussten. Thomas befehligte zwei Abteilungen von Konstablern, also zwei Sergeanten und zwei Corporals mit jeweils neun einfachen Soldaten, dazu noch ein gutes Dutzend subalterner Maoriwachen, um etwa dreihundert Gefangene in Schach zu halten.
Es gab nur wenige weiße Siedler auf der Insel, die zudem weit verstreut lebten. Der einzige Arzt, John Watson, war Alkoholiker, der einzige Missionar, J. G. Engst, Däne – und damit war das Kontingent an Intellektuellen erschöpft, mit denen der schmächtige, früh ergraute Captain Thomas ein kultiviertes Gespräch hätte führen können.
Die Konstabler, einfache Leute, Tagelöhner und Söhne von Tagelöhnern auf den größeren neuseeländischen Farmen, waren im Grunde nicht übel. Aber der Dienstälteste, Hauptsergeant Michael Hartnett, war ein Teufel. Er bemühte sich nicht einmal um militärische Haltung, als er aufgrund einer Beschwerde der
Gefangenen wieder einmal vor seinem Vorgesetzten, der höchsten Autorität in diesem kleinen Teil der Welt, Rechenschaft ablegen musste.
Thomas dachte nicht daran, dem Sergeanten einen Stuhl anzubieten, und hielt das bereits für eine Art von Sanktion. »Sie sind eine Plage, Hartnett. Worum ging es diesmal?«
»Te Kooti, Sir. Hört nicht auf mit seinen beschissenen Gebetsversammlungen. Aber diesmal haben wir sie hochgenommen!«
Captain Thomas seufzte. Te Kooti wurde in der Tat zu einem Problem. Seit einige maßgebende Häuptlinge der Whakarau begnadigt und repatriiert worden waren, war unter den Gefangenen ein Autoritätsvakuum entstanden, das der charismatische Krieger und Prophet geschickt zu besetzen verstand.
»Und warum zum Teufel haben Sie sie dabei nackt ausgezogen?«
Hartnett versuchte, ein dienstbeflissenes Gesicht aufzusetzen, konnte sich aber bei der Erinnerung an seinen schäbigen Triumph ein Grinsen nicht verkneifen. »Damit sie nichts verstecken können, Sir. Diese Affen verstecken doch immer was!« In Reih und Glied hatte Michael Hartnett die Gefangenen, Männer, Frauen und Kinder, vor den aufgepflanzten Bajonetten seiner rauchenden, angetrunkenen Soldaten antreten lassen und sich unter höhnischen Bemerkungen ihre Geschlechts- und Hinterteile angesehen. »Außerdem brauchten sie mal wieder eine Lektion.«
»Tekateka behauptet, Sie hätten seine Frau verprügelt und vergewaltigt«, sagte Thomas streng.
»Die muss man nicht vergewaltigen, Sir«, entgegnete Hartnett frech. »Sie ist eine Hure, das können viele meiner Männer bezeugen. Hätten mal sehen sollen, wie die sich aufgeführt hat!«
Tatsächlich hatte die etwa dreißigjährige Hulana Tamati, eine große, üppige Frau, versucht, aus der Demütigung eine Beleidigung zu machen, und Hartnett hatte sie daraufhin fesseln und
ins Wachhaus abführen lassen, um ihr zu zeigen,wo Gott wohnt. Das war ihm so gründlich gelungen, dass sie zwei Tage lang weder gehen noch sitzen konnte.
»Sie streiten das nicht mal ab?!« Captain Thomas verzog angewidert das Gesicht. Dann sagte er resigniert: »Sie werden Chatham mit dem nächsten Schiff verlassen, Sergeant! Und ich sorge persönlich dafür, dass Sie unehrenhaft entlassen werden.«
»Das wird böses Blut geben, Sir«, antwortete der Sergeant im sicheren Glauben an seine eigene Unverzichtbarkeit.
Es war die eklatanteste Form militärischer Insubordination, von der Thomas je gehört hatte. Er erhob sich zur vollen Größe seiner schmächtigen eins fünfundsechzig. »Drohen Sie mir, Sergeant?!«
»Nein, Sir«, sagte Hartnett ruhig. »Mache mir Sorgen um Sie, das ist alles.«
»Abtreten!«, sagte Captain William Edward Thomas, so drohend und gebieterisch er nur konnte. Es klang nicht sehr überzeugend.
77.
Gedächtnisbilder in Gedächtnisräumen an Gedächtnisorten, aufgereiht wie die Masten eines Schiffes. Nein, wie Bäume an einem Fluss, nein, Äste an einem Baum. Oder doch lieber auf seltsame rotierende Scheiben montiert und gegeneinander verschiebbar?
Deborah hatte nicht geglaubt, dass jemand, der ganz offensichtlich kein Pfarrer war, so viel Blödsinn in so kurzer Zeit reden konnte. Aber obwohl sie keine Ahnung hatte, wovon er eigentlich
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