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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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Herrn, den Gott der Weißen, in ihren Augen zu einem
Popanz, einer beliebig verfügbaren Puppe, bewegt von der Willkür seiner Prediger.
    Mehrere Versuche, auf sich allein gestellt richtig lesen und schreiben zu lernen, waren nicht unbedingt fehlgeschlagen, aber im Sande verlaufen. Für einen regulären Unterricht fehlten ihr Zeit und Geld, aber vor allem, Deborah wusste es, hatte sie nach einem ganzen Leben in der Sklaverei einfach nicht mehr die Geduld, auf die zähen kleinen Fortschritte täglichen Lernens zu warten. Verwundert stellte sie jetzt fest, dass ihre Unwissenheit ihr zum ersten Mal, seit sie ihre Lebensaufgabe übernommen hatte, wieder peinlich war.
    Ihre Strategie dagegen war denkbar einfach: Beinahe ehe er ihre erste Frage beantwortet hatte, stellte sie eine zweite. Immer der sein, der fragt. So bot sie keine Angriffsfläche, sie würde erfahren, was sie wissen wollte. Und sie würde wieder seine Stimme hören.
     
    John erzählte.
    Er erzählte so viel, dass er sich selbst darüber wunderte, was ihm plötzlich alles wieder einfiel. Ein Picknick am Tyne, ein Sonntagnachmittag. Er saß auf einer Wiese und sah sich die Kleeblätter an. Er hatte nie etwas so Grünes berührt, aber es schmeckte nicht. Ein freundlicher Riese, sein Vater, hob ihn auf und zeigte ihm den Fluss. Er glitzerte in der Sonne wie ein gewaltiges, vor Kraft zitterndes Tier.
    Warm. Seine Mutter zog ihm das Kleid aus, die viel zu großen Socken von seinen Füßen, und der Riese stellte ihn nackt in das strömende Wasser. Es war kalt. Er sah seine kleinen weißen Zehen weit unter sich wie durch ein Zauberglas. Fühlte, wie der Sand unter seinen Füßen wegrutschte, gleich würde er fallen. Aber der Riese hielt ihn sicher unter den Achseln. So viel Wasser hatte er noch nie gesehen. Woher kam es? Wohin floss es? Warum bewegte es sich? Das fröhliche Lachen seiner Eltern, als er hineinpinkelte.
    Er erzählte von dieser Erinnerung nichts, aber sie war da, ganz deutlich, während er sagte: »Benwell-upon-Tyne, in Nordengland, ein Bergbaugebiet. Kohle. Niedrige, eingeschossige Häuser, eher Hütten.
Schwarzer Staub überall, knirschte zwischen den Zähnen. Ein Bergmann und eine Lehrerin.«
    Anders als vorher unterbrachen ihn jetzt immer wieder ihre Fragen. Sie war mit ihm dort. In seiner Kindheit, in den Minen, den Straßen von London. Sie fuhr mit ihm auf all diesen Schiffen, den Ozeanen, durch Stürme und Eis und Nächte, die sechs Monate dauerten. Sie war bei ihm, als seine Mutter starb und der weiße Bär über ihn herfiel. Sie kam mit ihm nach Amerika, sie schwamm mit ihm auf dem großen Fluss.
    »Woher kommen Sie?«, fragte John Gowers schließlich.

78.
    Vielleicht waren sie ja nur so alt geworden, um einzusehen, dass das Leben keine mathematisch präzise Aufgabe ist; dass es Dinge gibt, die nur eine Zeit lang richtig sind, nur an einem bestimmten Ort, nur für einen einzigen Menschen. Das zu erkennen, das zu ertragen, das sein zu lassen hieß: glücklich sein.
    Die Zeit, in der sie füreinander richtig waren, war kurz gewesen, kein Jahr, nur einige Monate des Jahres 1814. Eileens Ehrgeiz hatte sie auf die jämmerliche, aber einzig zuverlässige Weise, die den Frauen in ihrer Zeit offenstand, einen mächtigen, älteren Mann heiraten lassen, der weder ihre Seele noch ihren Körper ernsthaft berührte. Mit Schaudern dachte sie an die Hochzeitsnacht, eine hastige, lieblos erledigte Pflicht. William drang in sie ein, wie er einen Nagel in ein Brett geschlagen hätte, und als sie eben anfing, etwas zu empfinden, was über Schmerz hinausging, war es auch schon vorbei gewesen: »Gute Nacht, Madame!«
    Das ging vier Jahre so, zwei Kinder wurden auf diese Weise gezeugt, und ein vorsichtiges, sehr kurzes Gespräch mit ihrer Mutter bestätigte sie in der Vermutung, dass dies normal sei. Dann, Eileen war vierundzwanzig Jahre alt, war der Seeräuber in ihrem Leben erschienen wie ein Komet. Er sah gut aus, war charmant, konnte
glänzend erzählen, hatte die geheimnisvolle Gabe, immer so etwas wie Mondschein und Abenteuer um sich zu verbreiten  – und er war der Todfeind ihres Mannes. Gouverneur William C. C. Clairborne ließ Jean Laffitte eine Zeit lang von sämtlichen Polizisten in allen Winkeln Louisianas suchen; nur eben nicht im Schlafzimmer seiner Frau, was die Romantik ihrer Begegnungen ins nahezu Unwirkliche, Literarische steigerte.
    Zum ersten Mal empfand Eileen ihren Körper nicht mehr als eine unvollkommene, widerspenstige Maschine, die

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