Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Dieser Weiße war anders. Der Arikirangi hatte es gesagt, sie selbst hatte es gespürt, gehofft, als sie ihn ganz allein mit dem Meer, mit dem Wind und dem großen Schiff kämpfen sah. Fasziniert hatte sie irgendwann festgestellt, dass das Schiff tat, was er wollte, und – glaubte sie – das Meer und der Wind auch ein bisschen.
Jetzt wollte er einen Spiegel, um sein Moko zu sehen, das noch frisch und sehr hässlich war. Heni hatte einen kleinen Spiegel, ein sehr kostbarer Besitz, den sie vor den anderen Kindern und sogar jungen Mädchen verbarg, weil sie nur Unsinn damit machten. Dem Poutikanga würde sie ihn geben, denn dass er auch für sie gekämpft hatte, mit dem Meer, mit dem Wind, wusste sie. Aber er folgte ihr nicht. Ihn anzusprechen hätte sie sich nicht getraut, aber irgendwann kam sie zurück und nahm ihn bei der
Hand. Er ist ganz anders an Land, dachte sie, entzückt darüber, dass nun sie ihn führen konnte.
Die Kleine zog ihn wortlos durch das halbe Dorf bis zu der Hütte, in der die unverheirateten Mädchen lebten. Als sie am Wharenui , dem Versammlungshaus, vorüberkamen und Gowers die an seinem Giebel angebrachte Figur mit den tief eingeschnittenen Gesichtslinien sah, dämmerte ihm zum ersten Mal etwas, und Heni merkte am plötzlich schmerzhaften Druck seiner Hand, dass eine gewaltige, kaum noch zurückzuhaltende Wut in ihm aufstieg.
In der schattigen Kühle des Mädchenhauses schien sein Zorn sich jedoch zu legen. Rasch suchte Heni den kleinen Spiegel hervor, eigentlich nur eine handtellergroße Spiegelscherbe, die dennoch einen Ehrenplatz unter ihren Schätzen, ein paar ausgesucht schönen Muscheln, einer zerrissenen Glasperlenkette, einem glänzenden Sixpence und ähnlichen Dingen, einnahm.
Gowers nahm die Binden von seinem Gesicht und hätte sich fast übergeben, als er sich in der Spiegelscherbe sah. Sein Magen zog sich zusammen, er zitterte und wurde blass – was die dünnen schwarzblauen, noch blutigen Linien, Kreise und Punkte, die sich auf beiden Seiten seines Gesichts von den Schläfen über die Kieferknochen herunterzogen, um sich auf seinem Kinn zu vereinigen, noch deutlicher hervortreten ließ. Das Gewebe daneben war wund und rot, und er murmelte, trotz der Schmerzen, die das verursachte: »Ich bringe ihn um! Ich bringe ihn um!«
Heni spürte seine Wut, hörte seine Worte, aber anstatt davonzulaufen, begann sie vor Schreck zu weinen und klammerte sich an seinem Bein fest, als er hinausstürzen wollte. Sein Moko tat ihm weh, aber wen wollte er deshalb töten? Und warum? Das Moko war nichts Schlimmes. Es war ein Schmuck und ein Zeichen dafür, wer und was man in der Welt war. Gewiss, es sollte furchtbar wehtun, wenn es ins Fleisch geschlagen wurde. Heni hatte die älteren Mädchen oft davon sprechen hören und schauderte bei dem Gedanken, dass eines Tages vielleicht auch
sie selbst unter dem Hammer und den scharfen Muschelklingen des Tatauiermeisters liegen würde.
Gowers hatte Tätowierungen schon immer verabscheut. Unter britischen und amerikanischen Seeleuten war diese Unsitte weit verbreitet, wurde aber ohne große Kunstfertigkeit geübt, und er fand die Ergebnisse nicht nur hässlich, sondern auch lächerlich. Ihm selbst, der in seinem Leben schon so vieles gewesen war, war es zudem immer dumm und anmaßend vorgekommen, wenn ein Mensch sich selbst durch die Endgültigkeit einer Tätowierung sozusagen als »fertig« deklarierte. Sollte man nicht immer die Möglichkeit wahren, noch einmal ein anderer zu werden?
Die ganze Lächerlichkeit seiner unsäglichen, gemeinen Verstümmelung kam ihm erst bei diesen Überlegungen richtig zu Bewusstsein, und er kochte vor Wut, konnte aber den wüsten Schwall überschäumender Seemannsflüche nicht einmal aus seiner Kehle hervorwürgen, weil das seine Wunden wieder aufgerissen hätte. Es gelang John Gowers nicht mehr, was er sein Leben lang halbwegs beherrscht hatte: sein Spiegelbild mit seiner Vorstellung von sich selbst in Einklang zu bringen, und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn sich in diesem ebenso furchtbaren wie albernen Moment kein weinendes kleines Mädchen an ihn geklammert hätte.
Heni zog seine Hände herunter und streichelte sie, zog ihn zu dem nächstbesten aus Farnkraut und bunten Decken gebildeten Lager, als wüsste sie, dass es Momente gibt, in denen ein Mann entweder explodiert oder sich hinlegen muss. Gowers legte sich, langsam und seufzend, wie ein großer Baum fällt. Er schämte sich vor dem Mädchen und
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