Flucht aus Katmandu
gezaubert.
Nathan und ich gingen hintereinander an den Ladenfronten vorbei, wichen Fahrrädern aus und sprangen über die zahlreichen Pfützen. Wir kamen an Teppichgeschäften vorbei, an Herrenausstattern, Restaurants, Second-Hand-Buchhandlungen, Reisebüros, Hotels und Souvenirläden, und lehnten dabei hundert Angebote von den jungen Männern auf der Straße ab: »Geld wechseln?« »Nein.« »Hasch rauchen?« »Nein.« »Schönen Teppich kaufen?« »Nein.« »Gutes Hasch!« »Nein.« »Geld wechseln?« »Nein.« Schon seit langem hatte ich solche Spaziergänge vereinfacht, indem ich einfach »Nein« zu jedem sagte, an dem ich vorbeikam. »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.« Nathan hatte eine andere Methode, die genauso gut oder noch besser zu funktionieren schien, da die Straßenhändler mich nicht für energisch genug zu halten schienen; er nickte höflich, sagte mit diesem direkten Blick »Nein, danke« und ließ sie mit offenem Mund einfach stehen.
Wir ließen das K. C. hinter uns, bahnten uns den Weg über den ›Times Square‹, eine gefährliche Kreuzung mit besonders dichtem Verkehr, und gingen die Straße entlang, die aus Thamel zum Rest von Katmandu hinausführte. Zwei Händler standen auf der Schwelle ihres Ladens und sangen zu einer Kassette von Pink Floyds The Wall: »We don't need no education, we don't need no thought control.« Ich wäre fast von einem Fahrrad überfahren worden. Als die Straße breiter wurde und das Pflaster begann, stieß ich eine schwarze Ziege zur Seite, und wir sprangen über eine riesige Pfütze in eine tunnelähnliche Halle, die in ein baufälliges Gebäude direkt an der Straße führte. In der Halle ging's dann eine schiefe Betontreppe hinauf. »Waren Sie schon mal hier?« fragte ich Nathan.
»Nein, ich gehe immer ins K. C. oder an den Roten Platz.« Er machte den Eindruck, als würde er es auch nicht bedauern.
Am Kopf der Treppe öffneten wir eine Tür und traten ins Kaiserreich Österreich-Ungarn. Weiße Tischtücher, abgeteilte Nischen zwischen breiten Gängen, rote Tapeten mit Lilienmustern, Plüschbezüge, geschmackvoll-kitschige Lampen auf jedem Tisch; und in der Luft der schwere, würzige Geruch von Sauerkraut und Gulasch. Walzer von Strauß aus der Music-Box. Abgesehen von dem leisen Hupen unten auf der Straße wirkte es völlig echt.
»Mein Gott«, sagte Nathan, »wie haben sie das hierher geschafft?«
»Ist hauptsächlich ihr Werk.« Die Besitzerin und das kulinarische Genie des Lokals, eine große, üppige, freundliche Frau, kam zu uns und begrüßte mich in steifem Englisch, dem deutlich hörbar ein deutscher Akzent anhaftete.
»Hallo, Eva. Wir suchen nach einem Freund …« Aber da war Nathan schon an uns vorbei und stürmte zu einer kleinen Nische im hinteren Teil des Lokals.
»Er hat ihn wohl gefunden«, sagte Eva mit einem Lächeln.
Als ich zu dem Tisch trat, schüttelte Nathan heftig die Hand eines kleinen, langhaarigen blonden Burschen Ende Dreißig, schlug ihm auf den Rücken und plapperte vor Erleichterung sinnlos vor sich hin – überwältigt vor Erleichterung, wie es aussah. »Freds, Gott sei Dank habe ich dich gefunden!«
»Schön, dich zu sehen, Kumpel! Aber du hast ziemliches Glück gehabt – eigentlich wollte ich heute morgen mit ein paar Tommies in die Hügel aufbrechen, aber die gute alte zuverlässige RNAC hat mal wieder alles abgesagt.« Freds hatte einen schwachen Südstaatenakzent und sprach so schnell wie kein zweiter.
»Ich weiß«, sagte Nathan. Er blickte auf und sah mich. »Eigentlich hat mein neuer Freund hier es herausbekommen. George Fergusson, das ist George Fredericks.«
Wir wechselten einen Händedruck. »Schöner Name!« sagte George. »Nennen Sie mich Freds, das machen alle.« Wir glitten hinter seinen Tisch, und Freds erklärte uns, daß die Freunde, mit denen er auf Bergtour gehen wollte, gerade ihre Zimmer suchten. »Was hast du so vor, Nathan? Ich hab' nicht mal gewußt, daß du überhaupt in Nepal bist. Ich dachte, du würdest wieder in den Staaten arbeiten, wilde Tiere retten oder so.«
»Hab' ich auch«, sagte Nathan, und sein grimmiger Friß-oder-stirb-Ausdruck legte sich wieder auf sein Gesicht. »Aber ich mußte zurückkommen. Hör zu – hast du meinen Brief nicht bekommen?«
»Nein, hast du mir geschrieben?« sagte Freds.
Nathan sah mich direkt an, und ich tat so unschuldig wie möglich. »Ich werde Sie ins Vertrauen ziehen müssen«, sagte er zu mir. »Ich kenne Sie nicht sehr gut, aber Sie
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