Flucht aus Katmandu
Bewunderung für den Einfallsreichtum der Journalisten der International Herald Tribüne wie früher für den der Schreiber des National Enquirer. ›Mein Gott‹, dachte ich, als ich die Schlagzeilen einer Tribbie vor einer Buchhandlung in Thamel überflog und von seltsamen Kriegen, unwahrscheinlichen Gipfeltreffen und bizarren Entführungen las. ›Woher haben sie nur die Phantasie, um sich das alles auszudenken?‹
Aber jetzt eine lange Geschichte aus Nepal. Das war Wirklichkeit. Und adressiert an einen ›Gebrge F.‹. Vielleicht war der Nachname falsch geschrieben? Wäre doch möglich, oder? Und auf jeden Fall wurde daraus, wie der Brief sich bog und der Umschlag zerfiel, eindeutig ersichtlich, daß er schon seit Jahren dort lag. Ein tödlicher Verlust für die Welt, wenn sich nicht jemand seiner erbarmte und ihn las. All diese Qualen der Gefühle, der Gehirnzellen und Fingermuskulatur, alles vergebens. Es war eine verdammte Schande.
Also nahm ich ihn an mich.
2
Mein Zimmer, eins der schönsten in ganz Thamel, lag in der dritten Etage des Star. Aus dem östlichen Fenster konnte man die großen, voller Fledermäuse hängenden Bäume des Königspalastes und das Wirrwarr der Geschäfte von Thamel überblicken. An zahlreichen Stellen sprenkelte großes Immergrün das Durcheinander der Gebäude; von meiner Höhe aus wirkte Thamel tatsächlich wie eine Stadt aus Bäumen. In der Ferne konnte ich die grünen Hügel sehen, die das Tal von Katmandu umschlossen, und bevor sich am Morgen die Bewölkung bildete, konnte man im Norden sogar einige weiße Gipfel des Himalaja sehen.
Das Zimmer selbst war einfach: ein Bett und ein Stuhl unter dem Licht einer einzelnen nackten Glühbirne, die an der Decke hing. Aber was braucht man sonst noch? Sicher, das Bett war uneben; aber wenn ich die Schaumstoffunterlage meiner Kletterausrüstung darüber legte, um die Unebenheiten auszugleichen, ging es. Und ich hatte mein eigenes Badezimmer. Es stimmt zwar, daß die sitzlose Toilette ziemlich undicht war, doch da der Duschstrahl direkt auf den Boden fiel und die Dusche ebenfalls leckte, spielte das keine große Rolle. Es entspricht auch den Tatsachen, daß die Dusche aus zwei Teilen bestand, einem Wasserhahn in Hüfthöhe und einem Duschkopf unter der Decke, und daß der Duschkopf nicht funktionierte, so daß ich mich unter den Hahn auf den Boden setzen mußte, wenn ich duschen wollte. Doch das war in Ordnung – es war alles in Ordnung –, weil das Wasser warm war. Der Durchlauferhitzer hing direkt über der Toilette an der Wand, und das Wasser, das aus dem Hahn kam, war so warm, daß ich beim Duschen noch kaltes Wasser zugeben mußte. Schon dadurch war dieses Badezimmer eines der schönsten in Thamel.
Auf jeden Fall waren dieses Zimmer und Bad seit etwa einem Monat meine Burg gewesen, während ich darauf wartete, daß meine nächste Reisegruppe von der Want To Take You Higher Ltd. eintraf. Als ich es mit dem gestohlenen Brief in der Hand betrat, mußte ich über Kleider, Kletterausrüstung, den Schlafsack, Lebensmittel, Bücher, Landkarten – alles, was ich eben vom Stuhl gefegt hatte – hinwegsteigen und neben der Fensterbank Platz für den Stuhl schaffen. Dann setzte ich mich und versuchte, den in der Mitte gebogenen alten Umschlag zu öffnen, ohne ihn aufzureißen.
Nichts da. Es war kein nepalesischer Umschlag, und auf der Lasche klebte echter Leim. Ich tat, was ich konnte, doch die CIA wäre nicht stolz auf mich gewesen.
Acht Blatt linierten Papiers kamen heraus, wie die meisten Briefe zweimal gefaltet und dann noch einmal von dem Regal gebogen. Auf beiden Seiten beschrieben. Die Handschrift war winzig, neurotisch regelmäßig und so leicht zu lesen wie ein Taschenbuch. Die erste Seite trug das Datum 2. Juni 1985. Soviel zu meiner Vermutung über sein Alter, aber ich hätte geschworen, daß der Umschlag vier oder fünf Jahre älter aussah. Das macht eben der Staub von Katmandu. Ein Satz im ersten Abschnitt war dick unterstrichen: ›Du darfst niemandem davon erzählen!!‹ Mann, heavy! Ich warf jedoch einen Blick aus dem Fenster. Ein Brief voller Geheimnisse! Einfach klasse! Ich kippte den Stuhl zurück, strich die Seiten glatt und fing an zu lesen.
2. Juni 1985 Lieber Freds,
ich weiß, es ist ein Wunder, auch nur eine Postkarte von mir zu bekommen, geschweige denn einen so langen Brief, wie dieser es werden wird. Aber mir ist etwas Erstaunliches zugestoßen, und Du bist mein einziger Freund, von dem ich weiß, daß er
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