Flucht aus Katmandu
läßt, und man kann die Faktoren nicht isolieren oder variieren oder kontrollieren – es geht immer nur um Beobachtungen und nicht überprüfbare Hypothesen! Und doch benehmen sie sich wie harte Wissenschaftler, erstellen mathematische Modelle und alles, wie Chemiker oder so. Das ist nur Wissenschaftlichkeit.«
Sarah schüttelte einfach den Kopf über mich. »Du bist zu idealistisch, Nathan. Du willst alles perfekt haben. Aber so einfach ist das nicht. Wenn man Tiere studieren will, muß man Kompromisse eingehen. Was dein Klassifikationssystem betrifft, solltest du einen Beitrag für die Soziobiologische Rundschau darüber schreiben! Aber bedenke, es ist nur eine Theorie. Wenn du das vergißt, fällst du in deine eigene Grube.«
Das hatte was für sich, und außerdem hatten wir ein paar Bienen entdeckt und mußten uns beeilen, ihnen den Bach hinauf zu folgen. So fand das Gespräch ein Ende. Doch als an den folgenden Abenden Valerie Budge im Zelt erklärte, wieso das Verhalten der menschlichen Gesellschaft ziemliche Ähnlichkeit mit dem der Ameisen habe – oder als Sarahs Freund Adrakian, frustriert von seinem Mangel an Funden, zu langen analytischen Ausführungen ansetzte, als sei er der bedeutendste Theoretiker seit Robert Trivers – warf sie mir manchmal einen Blick und ein Lächeln zu, und ich wußte, daß ich einen gewissen Eindruck erzielt hatte. Obwohl Adrakian gern große Worte in den Mund nahm, beeindruckte er mich kaum; seine Worte hätten einem Träger keine Rückenschmerzen bereitet, wenn Du weißt, was ich meine. Ich verstand gar nicht, was Sarah an ihm fand.
Eines Tages kurz nach diesem Gespräch kehrten Sarah und ich ins mittlere Hochtal zurück, um wieder nach Bienenstöcken zu suchen. Es war ein wolkenloser Morgen, ein klassischer Waldspaziergang im Himalaja: über die Brücke, an den Felsen im Bachbett entlangwandern, von Teich zu Teich hinaufsteigen; dann weiter hinauf zwischen feuchten Bäumen und durchs Unterholz. Dann über die Wand des unteren Tals und auf den Grund des oberen Tals, in dessem großen Rhododendronwald es viel klarer und sonniger war. Die Rhododendronblüten schimmerten noch auf jedem Zweig, und bei der pinkfarbenen Leuchtkraft der Blumen und den langen Kegeln des Sonnenlichts, die durch die Blätter fielen und grobe schwarze Rinde erhellten, orange Pilze und hellgrüne Farne, kam man sich vor, als würde man durch einen Traum wandeln. Und tausend Meter über uns bäumte sich majestätisch ein schneebedecktes Hufeisen aus Gipfeln auf. Der Himalaja – Du weißt schon.
Also waren wir guten Mutes, als wir, dem Bachbett folgend, dieses Hochtal hinauf marschierten. Und wir hatten auch Glück. Hinter einer Biegung mit leichtem Gefälle verbreitete sich der Bach zu einem langen schmalen Teich, über dessen südlichem Ufer sich eine Klippe aus gelbgestreiftem Granit erhob, durchzogen von großen horizontalen Rissen. Und aus diesen Rissen ergossen sich Bienenschwärme. Teile der Klippe schienen schwarz zu pulsieren, Wolken von Bienen trieben vor ihnen, und über dem leisen Geräusch des Flusses konnte man das sanfte Summen der Bienen hören, die ihrer Arbeit nachgingen. Aufgeregt setzten Sarah und ich uns auf einen Felsen in der Sonne, holten unsere Ferngläser hervor und begannen nach Vogelleben Ausschau zu halten. Goraks talaufwärts auf dem Schnee, ein Lämmergeier, der über die Gipfel segelte, Finken, die wie immer herumhüpften – und dann sah ich es. Ein gelber Fleck, etwas größer als der größte Kolibri. Ein Singvogel auf einem Ast, der vor den Bienenstöcken baumelte. Und schon flog er hinab, zu einem heruntergefallenen Stück Bienenwachs; pick, pick, pick, und das Wachs war verschwunden. Ein Honigsauger. Ich stieß Sarah an und zeigte ihn ihr, doch sie hatte ihn schon gesehen. Wir standen lange Zeit über still da und beobachteten ihn.
Edward Cronin, der Leiter einer früheren Expedition ins Himalajagebiet, hatte eine der ersten umfassenden Studien über Honigsauger erstellt, und ich wußte, daß Sarah seine Beobachtungen überprüfen und die Arbeit fortsetzen wollte. Honigsauger sind ungewöhnliche Vögel; sie haben sich darauf spezialisiert, mit Hilfe einiger Bakterien in ihrem Magen- und Darmsystem vom überflüssigen Wachs der Honigwaben zu leben. Dieses Ernährungskunststück hat kaum ein anderes Geschöpf auf Erden fertiggebracht, und die Vögel haben offensichtlich einen guten Zug getan, da ihnen damit eine sehr große Nahrungsquelle offensteht, für die sich
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