Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Reporter hatten angerufen, um eine Stellungnahme dazu zu bekommen,und meine Mutter wollte wissen, ob ich zu Weihnachten Truthahn oder Schinken essen wolle, womit sie auf ihre nicht gerade subtile Art herauszufinden versuchte, ob sie wenigstens an einem Feiertag in diesem Jahr mit mir rechnen konnte.
Die schwer atmende Stimme, die folgte, kannte ich nicht.
»... du hast so hübsches, blondes Haar. Ist es echt, oder hast du es gefärbt, Kay?«
Ich spulte das Band zurück. In panischer Hast öffnete ich die Nachttischschublade.
»... Ist es echt, oder hast du es gefärbt, Kay? Ich habe dir ein kleines Geschenk auf die Veranda gelegt.«
Verwirrt und mit meinem Ruger in der Hand spulte ich das Band noch einmal zurück. Die Stimme war fast nur ein Flüstern und klang sehr ruhig und bedacht. Es war ein Weißer. Ich konnte keinen Akzent und auch keine Gefühlsregung in der Stimme entdecken. Meine Schritte auf der Treppe klangen nervenaufreibend laut. In jedem Zimmer, an dem ich vorbeikam, schaltete ich das licht ein. Die Veranda lag hinter der Küche. Mein Herz klopfte heftig, als ich auf eine Seite des großen Fensters trat und die Vorhänge einen winzigen Spalt öffnete. Den Revolver hielt ich erhoben, den lauf an die Decke gerichtet.
licht sickerte auf die Veranda, vertrieb die Dunkelheit vom Rasen und ließ die Bäume als fahle Formen vor der Schwärze des Waldes am Rand meines Grundstückes erscheinen. Nichts lag auf dem Ziegelboden der Veranda, und auch auf den Stufen konnte ich nichts entdecken. Ich nahm den Türknopf in die Hand und stand ganz still. Mein Herz hämmerte wie wild, als ich den Riegel zurückschob. Beim Öffnen der Tür bemerkte ich ein kaum wahrnehmbares Schaben an ihrer hölzernen Außenseite, und als ich sah, was über dem äußeren Türknopf hing, warf ich die Tür so heftig zu, dass die Fenster erzitterten.
Marino klang, als habe ich ihn aus dem Bett geholt.
»Kommen Sie sofort her!«, schrie ich in den Hörer, wobei meine Stimme eine Oktave höher als üblich war.
»Bewahren Sie Ruhe«, sagte er ruhig und bestimmt. »ÖffnenSie niemandem, bis ich bei Ihnen bin. Haben Sie das kapiert? Ich bin auf dem Weg.«
Vier Streifenwagen standen hintereinander auf der Straße vor meinem Haus, und im Unterholz des nahen Waldes zerschnitten die Lichtstrahlen der Polizeitaschenlampen die Dunkelheit.
»Die Hundestaffel ist unterwegs«, sagte Marino und stellte sein tragbares Funkgerät auf meinen Küchentisch. »Ich bezweifle zwar, dass der Penner noch irgendwo hier herumlungert, aber bevor wir wieder weggehen, wollen wir hundertprozentig sicher sein.«
Zum ersten Mal überhaupt sah ich Marino in Jeans, und er hätte fast lässig gestylt ausgesehen, wären da nicht ein Paar weiße Tennissocken, die billigen Turnschuhe und das graue Sweatshirt gewesen, das ihm eine Nummer zu klein war. Die Küche roch nach frisch gebrühtem Kaffee. Ich hatte so viel gemacht, dass er für die halbe Nachbarschaft gereicht hätte. Ich blickte hektisch umher und suchte nach einer Beschäftigung.
»Erzählen Sie mir das Ganze noch einmal in aller Ruhe«, bat Marino und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich hörte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab«, begann ich noch einmal. »Die letzte davon kam von dieser Stimme. Weiß, männlich, jung. Sie müssen sie selbst hören. Er sagte etwas über meine Haare, wollte wissen, ob ich sie gefärbt hätte.« Marinos Blicke glitten unverschämterweise zu meinen Haarwurzeln. »Dann sagte er, dass er auf der Veranda ein Geschenk für mich hinterlassen hätte. Ich ging hinunter, schaute aus dem Fenster und sah nichts. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht irgendetwas Abscheuliches in einer Schachtel, als Geschenk verpackt. Als ich die Tür öffnete, hörte ich, wie etwas am Holz schabte. Es hing über dem äußeren Knauf.«
Mitten auf dem Tisch lag ein Beweismittelbeutel aus durchsichtigem Plastik, und in diesem befand sich ein merkwürdiges goldenes Medaillon an einer dicken Goldkette.
»Sind Sie sicher, dass es sich um dasselbe handelt, das Harper in der Gastwirtschaft trug?«, fragte ich ihn noch einmal.
»Na klar«, antwortete Marino mit versteinertem Gesicht. »Da gibt es nichts dran zu rütteln. Und auch nicht daran, wo sich das Ding in der Zwischenzeit befunden hat. Der Irre hat es Harpers Leiche abgenommen, und jetzt haben Sie es als ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk bekommen. Sieht aus, als habe Sie unser Freund ins Herz
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