Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Mark ganz sicher eines davon.
Ich konnte mich kaum mehr an das Jahr erinnern, noch viel weniger daran, wohin wir damals genau gefahren waren, als wir eine Woche bei meiner Familie verbracht hatten. An andere Dinge erinnerte ich mich hingegen noch sehr deutlich. An seine schlottrige weiße Badehose, zum Beispiel, und an die feste Wärme seiner Hand, als er bei unseren Spaziergängen über den kühlen, nassen Sand die meine hielt. Ich erinnerte mich an das umwerfende Weiß seiner Zähne, das sich vom Kupferbraun seiner Haut abhob, an seine gesunden, freudestrahlenden Augen, wenn er Haifischzähne und Muscheln suchte, während ich ihn aus dem Schatteneines weitkrempigen Huts anlächelte. Am wenigsten aber konnte ich vergessen, dass ich damals einen jungen Mann namens Mark James so sehr liebte, dass ich nicht geglaubt hätte, irgendetwas auf der Welt mehr lieben zu können.
Was hatte ihn nur so verändert? Ich konnte es nur schwer begreifen, dass er, wie Ethridge annahm, zur Gegenseite übergelaufen war, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als diesen Umstand zu akzeptieren. Mark hatte schon immer alles bekommen, was er wollte, und gab einem stets das Gefühl, dass er auf alles einen Anspruch habe, ganz der blendend aussehende Sohn aus gutem Hause. Die Gaben der Erde gehörten ihm und warteten darauf, dass er sich ihrer bediente, aber unehrlich war er nie gewesen und grausam ebenso wenig. Ich konnte nicht einmal sagen, dass er denen gegenüber, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie er selbst, herablassend gewesen wäre oder dass er andere, die seinem Charme verfallen waren, irgendwie ausgenutzt hätte. Seine einzige wirkliche Sünde war es, mich nicht genügend geliebt zu haben.
Vom erhabenen Standpunkt meiner jetzigen Lebenserfahrung aus konnte ich ihm das verzeihen. Was ich ihm nicht verzeihen konnte, war seine Unaufrichtigkeit. Ich konnte ihm nicht verzeihen, dass aus ihm ein anderer Mann geworden war als der, den ich einmal respektiert und angehimmelt hatte. Ich konnte ihm nicht verzeihen, dass es Mark nicht mehr gab.
Ich fuhr auf dem Highway 1 am U.S. Marine Hospital vorbei und folgte auf dem North Roosevelt Boulevard der sanft geschwungenen Küste.
Bald darauf steckte ich im Straßenlabyrinth von Key West und suchte nach dem Weg zur Duval Street. Sonnenlicht tauchte die engen Straßen in leuchtendes Weiß, und die Schatten tropischer Bäume, die sich in einer leichten Brise bewegten, tanzten über das Pflaster. Unter einem endlosen blauen Himmel spendeten große Palmen und Magnolienbäume mit ihren weit ausgebreiteten grünen Armen Häusern und Geschäften kühlen Schatten. Purpurn und hellrot leuchteten Bougainvillea und Hibiskus auf Gehsteigenund Veranden. Langsam fuhr ich an Leuten in Shorts und Sandalen und einer endlosen Schlange von Mopeds vorbei. Es gab sehr wenig Kinder und überdurchschnittlich viele Männer hier.
Das La Concha war ein hohes, rosafarbenes Holiday Inn mit vielen Innenhöfen voller prächtiger tropischer Pflanzen. Ich bekam ohne Probleme ein Zimmer, angeblich deshalb, weil die Touristensaison erst in der dritten Dezemberwoche begann. Aber als ich mein Auto auf dem halbleeren Parkplatz abgestellt hatte und in die ziemlich verlassene Lobby ging, musste ich daran denken, was Marino gesagt hatte. Niemals zuvor in meinem Leben hatte ich so viele gleichgeschlechtliche Paare gesehen, und es war vollkommen klar, dass unter der gesunden Oberfläche dieser kleinen Insel vor der Küste die Krankheit lauerte. Wohin ich auch sah, überall glaubte ich sterbende Männer zu sehen. Ich hatte keine Angst davor, dass ich mich mit Hepatitis oder Aids infizieren könnte, weil ich schon vor langer Zeit gelernt hatte, mit der theoretischen Gefahr von Krankheiten, die zu meinem Beruf gehörten, umzugehen. Auch hatte ich nichts gegen Homosexuelle. Je älter ich wurde, desto mehr war ich der Meinung, dass man Liebe auf viele verschiedene Arten empfinden kann. Es gibt keine richtige oder falsche Art zu lieben.
Als mir der Empfangschef meine Kreditkarte zurückgab, ließ ich mir von ihm den Weg zu den Aufzügen zeigen, und mit benebeltem Kopf fuhr ich zu meinem Zimmer in den fünften Stock hinauf. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus, kroch ins Bett und schlief vierzehn Stunden lang tief und fest.
Der folgende Tag war ebenso strahlend sonnig wie der vergangene, und ausgerüstet wie jeder andere Tourist, bis auf die Ruger in meiner Handtasche, machte ich mich auf den Weg. Ich hatte mir die
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