Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Aufgabe gestellt, diese Insel von etwa dreißigtausend Einwohnern nach zwei Männern zu durchsuchen, von denen ich einzig wusste, dass sie P. J. und Walt hießen.
Ich wusste aus den Briefen, die Beryl Ende August geschrieben hatte, dass sie ihre Freunde gewesen waren und in demselbenHaus wie sie gewohnt hatten. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie diese Pension hieß oder wo sie sich befand. Ich konnte nur hoffen, dass jemand in Louie’s Backyard mir das würde sagen können. Ich ging die Duval Street hinunter, vorbei an Reihen von Geschäften und Restaurants mit prächtigen Balkonbrüstungen, die mich an das französische Viertel in New Orleans erinnerten. Ich schlenderte an Ständen auf dem Gehsteig vorbei, die Kunstwerke feilboten, und passierte Boutiquen, die exotische Pflanzen, Seidentücher und Perugina-Schokolade verkauften. An einer Kreuzung blieb ich stehen und sah zu, wie die knallgelben Wagen des Conch-Tour-Touristenzuges vorbeirollten. Langsam begann ich zu verstehen, warum Beryl Madison nicht aus Key West fortgewollt hatte. Mit jedem Schritt, den ich tat, verblasste Frankies bedrohliche Gegenwart ein wenig mehr. Als ich schließlich nach links in die South Street abbog, erschien er mir so fern wie das raue Dezemberwetter von Virginia.
Louie’s Backyard war ein weißes Holzhaus an der Ecke Vernon und Waddell Street. Die Hartholzfußböden und die pfirsichfarbene Tischwäsche des Restaurants strahlten vor Sauberkeit. Die Tische waren perfekt gedeckt und mit ausgesucht hübschen frischen Blumen geschmückt. Ein Kellner führte mich durch den klimatisierten Speisesaal zu einem Tisch auf der Veranda. Ich war überwältigt von dem Anblick, der sich mir bot. Wo sich Wasser und Himmel trafen, funkelte das Meer in den verschiedensten Blautönen. Überall standen Palmen, und Hängekörbe voller blühender Pflanzen schwangen langsam in einem sanften, nach Meer duftenden Lufthauch hin und her. Der Atlantik lag mir praktisch zu Füßen, und eine bunte Schar von Segelbooten ankerte nur eine kurze Schwimmstrecke entfernt. Ich bestellte einen Rum mit Tonic, dachte an Beryls Briefe und fragte mich, ob ich jetzt vielleicht genau dort saß, wo sie sie geschrieben hatte.
Die meisten Tische waren besetzt, der meinige stand etwas abgesondert von den anderen in einer Ecke am Geländer. Links von ihm führten viele Stufen hinunter auf eine große Plattform, auf der sich ein paar junge Männer und Frauen in Badeanzügenin der Nähe einer kleinen Bar sonnten. Ich sah zu, wie ein sehniger, lateinamerikanisch aussehender Junge in einer gelben Badehose eine Zigarettenkippe ins Wasser schnippte, aufstand und sich träge streckte. Er watschelte davon, um bei dem bärtigen Barkeeper, der sich schwerfällig bewegte wie jemand, der nicht mehr ganz jung ist und den sein Job schon seit langem anödet, eine neue Runde Bier zu holen.
Ich hatte meinen Salat und meine Schüssel mit Muschelsuppe längst gegessen, als die jungen Leute endlich die Treppe zum Meer hinunterkletterten und unter lautem Gejohle ins Wasser stürmten. Bald schwammen sie in Richtung auf die vor Anker liegenden Boote davon. Ich bezahlte und ging hinunter zu dem Barkeeper. Er saß zurückgelehnt auf einem Stuhl unter seinem Schilfdach und las in einem Roman.
»Was darf’s sein?«, fragte er gedehnt, stand ohne viel Elan auf und verstaute das Buch unter der Bar.
»Verkaufen Sie auch Zigaretten?«, fragte ich. »Ich habe drinnen keinen Automaten gesehen.«
»Das stimmt«, bestätigte er und deutete auf eine beschränkte Auswahl an Zigaretten hinter ihm. Ich sagte ihm, welche ich wünschte. Er knallte das Päckchen vor mich auf die Bar, verlangte die unverschämte Summe von zwei Dollar, und auch als ich ihm fünfzig Cent Trinkgeld gab, wurde er nicht höflicher. Seine Augen waren unfreundlich und grün, und die Sonne hatte im Lauf der Jahre sein Gesicht gegerbt. Graue Strähnen durchzogen seinen dichten dunklen Bart. Er wirkte feindselig und hart, und ich hatte den Verdacht, dass er schon eine ganze Zeitlang in Key West lebte.
»Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte ich.
»Das haben Sie gerade getan, Ma’am, aber das macht nichts«, antwortete er.
Ich lächelte. »Sie haben recht. Und jetzt stelle ich Ihnen gleich noch eine. Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»So an die fünf Jahre.« Er nahm ein Tuch und fing an, die Bar zu polieren.
»Dann müssten Sie eigentlich eine junge Frau gekannt haben, die Straw genannt wurde«, sagte ich. Beryl hatte
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