Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
und blies das Streichholz aus, »dieses selbstgerechte Gefasel übers Rauchen und alles andere geht mir total auf den Geist. Wissen Sie, was ich meine? Manche Leute behandeln einen schon wie einen gottverdammten Verbrecher. Ich sage immer: Leben und leben lassen. Das ist mein Motto.«
»Ja, ich weiß genau, was Sie meinen«, stimmte ich ihm zu, und wir nahmen jeder einen langen, gierigen Zug.
»Es gibt immer irgendetwas, für das die Leute einen verurteilen. Sie wissen schon. Was man isst. Was man trinkt. Mit wem man geht.«
»Mir geht es auch auf den Geist, dass manche Leute meinen, sie hätten das Recht, andere auf eine äußerst unfreundliche Art zu verurteilen«, antwortete ich.
»Amen.«
Er setzte sich wieder zwischen die aufgereihten Flaschen im Schatten seines Schilfdachs, während mir die Sonne auf den Kopf brannte. »Okay«, meinte er, »Sie sind also Straws Ärztin. Was wollen Sie denn herausfinden, wenn ich fragen darf?«
»Verschiedene Dinge, die vor ihrem Tod geschahen, sind sehrverwirrend«, sagte ich. »Ich hoffe, dass Ihre Freunde mir dabei helfen können, ein paar dieser Punkte aufzuklären ...«
»Warten Sie mal«, unterbrach er mich und setzte sich gerader auf seinen Stuhl. »Was haben Sie als Ärztin eigentlich mit ihr zu tun gehabt?«
»Ich habe sie untersucht ...«
»Wann?«
»Nach ihrem Tod.«
»So ein Mist. Wollen Sie mir erzählen, dass Sie Pathologin sind?«, fragte er ungläubig.
»Ich bin Forensikerin.«
»Coroner?«
»Mehr oder weniger.«
»Nun, verdammt.« Er beäugte mich von oben bis unten. »Das hätte ich beim besten Willen nicht erraten.«
Ich wusste nicht, ob ich das als Kompliment auffassen sollte oder nicht.
»Schickt man immer einen – wie sagten Sie doch gleich – Forensiker wie Sie, um ein paar Punkte zu klären?«
»Mich hat niemand geschickt. Ich kam auf eigenen Entschluss hierher.«
»Warum?«, fragte er, und in seinen Augen sah ich wieder den Ausdruck eines dunklen Zweifels. »Es ist eine ziemlich weite Reise von Virginia hier herunter.«
»Es interessiert mich, was sie gemacht hat. Es interessiert mich sogar sehr.«
»Sie sagen also, dass Sie nicht von der Polizei hierhergeschickt wurden?«
»Die Polizei hat nicht die Befugnis, mich irgendwohin zu schicken.«
»Gut.« Er lachte. »Das gefällt mir.«
Ich nahm meinen Drink.
»Cops sind brutal. Sie halten sich alle für Westentaschen-Rambos.« Er drückte seine Zigarette aus. »Sie kamen mit Gummihandschuhen hier herein. Herrgott noch mal. Was meinen Siewohl, wie das auf unsere Gäste gewirkt hat? Sie kamen, um mit Brent zu sprechen. Er war einer unserer Kellner. Er lag im Sterben, Mann, und was haben sie getan? Diese Arschlöcher trugen jeder einen Mundschutz, und als sie ihn irgendwelchen Quatsch fragten, hielten sie drei Meter Abstand zu seinem Bett, als hätte er die Beulenpest. Ich schwöre bei Gott, selbst wenn ich irgendetwas über Beryl gewusst hätte, hätte ich denen nicht einmal verraten, wie spät es ist.«
Der Name traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich sah ihn an und bemerkte, dass ihm selbst eben klargeworden war, was er da gesagt hatte.
»Beryl?«, fragte ich.
Er lehnte sich stumm zurück.
Ich drängte ihn. »Sie wussten, dass ihr Name Beryl war?«
»Wie ich schon sagte, die Polizei war hier, hat Fragen gestellt und über sie geredet.« Betreten zündete er sich noch eine Zigarette an, wobei er mir nicht in die Augen sehen konnte. Mein Freund, der Barkeeper, war ein sehr schlechter Lügner.
»Hat die Polizei auch mit Ihnen gesprochen?«
»Nein. Als ich sah, was los war, bin ich auf Tauchstation gegangen.«
»Warum?«
»Ich habe es Ihnen doch schon erzählt. Ich mag keine Polizei. Ich fahre einen Barracuda, eine verbeulte alte Rostlaube, die ich schon seit meiner Jugend habe. Aus irgendeinem Grund halten die mich damit ständig an und geben mir wegen jeder Kleinigkeit einen Strafzettel. Führen sich mächtig auf mit ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen und ihren dicken Kanonen. Die tun so, als wären sie die Stars in ihrer eigenen kleinen Fernsehserie.«
»Sie kannten Straws richtigen Namen schon, als sie hier war«, sagte ich ruhig. »Sie wussten, dass sie Beryl Madison hieß, lange bevor die Polizei kam.«
»Na und wennschon? Was ist schon groß dabei?«
»Sie war sehr verschwiegen in dieser Beziehung«, antwortete ich leise. »Sie wollte nicht, dass die Leute hier wussten, wer siewirklich war. Sie hat es niemandem gesagt. Sie zahlte alles in bar, damit sie keine
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