Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
hat sie deshalb ermordet, sobald sie zurück war.«
»Er hat sich von ihr total verarscht gefühlt«, warf Marino ein.
Wesley blickte auf die Fotos und fuhr fort: »hier wiederum sehe ich eine sehr starke Wut, und genau da beginnen die Ungereimtheiten. Diese Wut richtete sich anscheinend direkt gegen sie. Ganz besonders fällt das bei den Verstümmelungen in ihrem Gesicht auf.« Er klopfte mit dem Zeigefinger auf eines der Fotos. »Das Gesicht steht für die Person. Beim typischen sadistischen Sexualmord bleibt das Gesicht des Opfers fast immer unversehrt. Das Opfer ist bei diesen Morden ein Symbol, keine individuelle Person. Es hat für den Täter kein Gesicht, weil es für ihn ein Niemand ist. Wenn er etwas verstümmelt, dann die Brüste oder die Genitalien ...« Er zögerte, einen irritierten Zug um die Augen. »Bei Beryls Ermordung spielen persönliche Motive eine Rolle. Das zerfetzte Gesicht und die vielen Stichwunden, von denen schon eine tödlich gewesen wäre, deuten darauf hin, dass ihr Mörder sie gekannt hat, vielleicht sogar gut. Es muss jemand gewesen sein, den eine persönliche, starke Besessenheit mit ihr verband. Aber zu diesem Täterbild passt nicht, dass er sie aus der Ferne belauert haben und ihr heimlich gefolgt sein soll. Darin zeigt sich mehr das Verhalten eines Mörders, der eine Fremde tötet.«
Marino spielte wieder mit Wesleys .357er-Tombolagewinn herum. Er ließ die Trommel rotieren und sagte: »Wollen Sie meine Meinung dazu hören? Ich glaube, die Ratte bildet sich ein, Gott zu sein. Solange man sich an seine Spielregeln hält, haut er einem keins über die Rübe. Beryl hat die Regeln verletzt, indem sie die Stadt verlassen und vor ihrem Haus ein ›Zu verkaufen‹- Schild aufgestellt hat. Damit war der Spaß für ihn vorbei. Sie hat gegen die Regeln verstoßen, also musste sie bestraft werden.«
»Was für ein Bild machen Sie sich von ihm?«, fragte ich.
»Weißer, Mittzwanziger bis Mittdreißiger. Intelligent, aus einer kaputten Familie, in der es keine Vaterfigur für ihn gab. Vielleicht wurde er auch als Kind missbraucht, körperlich oder seelisch oder beides. Er ist ein Einzelgänger. Das bedeutet jedoch nicht, dass er auch allein lebt. Er könnte verheiratet sein, denn er kann sich geschickt hinter einer bürgerlichen Fassade verbergen. Er führt ein Doppelleben. Eines, das für die Augen der Welt bestimmt ist, und ein zweites mit einer dunkleren Seite. Er ist obsessiv-kompulsiv und ein Voyeur«, antwortete Wesley.
»Stimmt!«, murmelte Marino sarkastisch. »Das trifft für die Hälfte aller Penner zu, mit denen ich zu tun habe.«
Wesley zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sind das auch Schüsse in den Ofen, Pete. Ich bin mir über die Geschichte noch nicht völlig im Klaren. Er könnte auch ein ewiger Verlierer sein, der noch zu Hause bei seiner Mutter lebt. Vielleicht ist er auch vorbestraft, war im Irrenhaus oder im Gefängnis. Zum Teufel, möglicherweise arbeitet er auch in einer großen Firma in der Innenstadt und hat keine kriminelle oder psychiatrische Vorgeschichte. Es sieht so aus, als habe er Beryl hauptsächlich abends angerufen. Nur einmal hat er, soweit wir wissen, untertags angerufen, und das war an einem Samstag. Sie arbeitete zu Hause und verbrachte die meiste Zeit dort. Er rief sie an, wenn es für ihn am einfachsten war, und nicht dann, wenn die Wahrscheinlichkeit, sie zu erreichen, am größten schien. Ich bin fast geneigt anzunehmen, dass er in einem ganz normalen Job von neun bis um fünf arbeitet und am Wochenende frei hat.«
»Es sei denn, er hat sie von seiner Arbeit aus angerufen«, sagte Marino.
»Die Möglichkeit besteht natürlich immer«, gab Wesley zu.
»Wie ist das mit seinem Alter?«, fragte ich. »Meinen Sie nicht, dass er möglicherweise älter sein könnte, als Sie ihn schätzen?«
»Es wäre ungewöhnlich«, sagte Wesley, »aber möglich ist alles.«
Ich trank meinen Kaffee, der mittlerweile kalt geworden war, und berichtete ihnen schließlich, was mir Mark über Beryls Vertragsquerelen und ihre rätselhafte Beziehung zu Cary Harper erzählt hatte. Als ich geendet hatte, schauten mich Wesley und Marino neugierig an. Erstens klang dieser überraschende nächtliche Besuch eines Chicagoer Anwalts ein wenig merkwürdig. Und zweitens hatte ich ihre Überlegungen aus der Bahn geworfen. Der Gedanke, dass Beryls Ermordung tatsächlich ein Motiv zugrunde liegen könnte, war den beiden wahrscheinlich bisher nicht gekommen, genauso wenig wie er
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