Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Manuskript geschickt, bevor sie Key West verließ. Wir sollten abklären, ob sie das Ding mit zurück nach Richmond genommen hat. Wenn sie es mit hierhergebracht hat und es jetzt verschwunden ist, haben wir einen wichtigen Hinweis, um nicht mehr zu sagen.«
Wesley blickte auf seine Uhr. Er schob seinen Stuhl zurück und meinte dann entschuldigend: »In fünf Minuten habe ich eine andere Verabredung.« Er führte uns hinaus in die Lobby.
Ich konnte Marino einfach nicht loswerden. Er bestand darauf, mit mir zu meinem Auto zu gehen.
»Man muss immer die Augen offen halten.« Er war schon wieder mitten in einer seiner »Überleben in der Großstadt«-Predigten, wie er sie mir in der Vergangenheit schon hundertmal gehalten hatte. »Viele Frauen vergessen das immer wieder. Ich sehe sie ständig herumlaufen, ohne die leiseste Ahnung, dass sie gerade jemand anstarrt oder ihnen vielleicht schon folgt. Und wenn Sie bei Ihrem Auto sind, dann halten Sie Ihren verdammten Schlüssel bereit und schauen unter den Wagen, okay? Erstaunlich, wie wenig Frauen auch daran nicht denken. Wenn Sie dann fahren und bemerken, dass Ihnen jemand folgt, was tun Sie dann?«
Ich ignorierte ihn.
»Fahren Sie zur nächsten Feuerwehrwache, okay? Warum das? Weil dort immer jemand ist. Sogar an Weihnachten morgens um zwei. Also, immer zur Feuerwehr.«
Ich wartete auf eine Lücke im Verkehr und suchte unterdessen nach meinem Autoschlüssel. Als ich über die Straße blickte, sah ich ein verdächtiges weißes Rechteck unter dem Scheibenwischer meines Dienstwagens. Hatte ich schon wieder nicht genügend Geld in die Parkuhr geworfen? Verdammt.
»Üble Typen sind überall«, dozierte Marino weiter. »Wenn Sie auf dem Nachhauseweg sind oder gerade einkaufen gehen, müssen Sie sich angewöhnen, auf sie zu achten.«
Ich warf ihm einen bösen Blick zu und lief über die Straße.
»Hey«, sagte er, als wir bei meinem Auto waren, »seien Sie doch nicht sauer auf mich. Sie sollten froh sein, dass ich über Ihnen schwebe wie ein Schutzengel.«
Die Parkuhr war vor genau einer Viertelstunde abgelaufen. Ich riss den Strafzettel von meiner Windschutzscheibe, faltete ihn zusammen und stopfte ihn Marino in seine Hemdtasche.
»Wenn Sie zurück zur Polizeizentrale schweben«, erwiderte ich, »dann kümmern Sie sich doch bitte um das hier.«
Er grollte vor sich hin, und ich fuhr los.
3
Zehn Blocks weiter hielt ich wieder an einer Parkuhr und warf meine letzten beiden Vierteldollarmünzen hinein. Ich stellte immer ein rotes Medical-Examiner-Schild gut sichtbar auf das Armaturenbrett meines Dienstwagens, aber die Verkehrspolizisten kümmerten sich nicht darum. Vor ein paar Monaten hatte doch tatsächlich einer von ihnen die Frechheit besessen, mich aufzuschreiben, während ich in der Innenstadt an einem Mordtatort arbeitete, zu dem mich die Polizei mitten am Tag gerufen hatte.
Ich eilte ein paar Betonstufen hinauf und betrat durch eine Glastür die Hauptstelle der Stadtbücherei. Auf hölzernen Tischen stapelten sich Bücher, und Leute gingen geräuschlos herum. Die Ruhe in diesen Räumen rief in mir dasselbe Gefühl der Ehrfurcht hervor wie in meinen Kindertagen. Ich fand eine Reihe von Mikrofiche-Lesegeräten und schrieb mir dort die Titel der Bücher, die Beryl Madison unter ihren verschiedenen Pseudonymen veröffentlicht hatte, aus dem Katalog heraus. Ihr neuestes Werk, einen historischen Roman, der zur Zeit des Bürgerkriegs spielte, hatte sie unter dem Namen Edith Montague verfasst. Er war vor eineinhalb Jahren erschienen. Vermutlich ein belangloses Buch, dachte ich, und außerdem hatte Mark recht. Innerhalb der letzten zehn Jahre hatte Beryl sechs Romane veröffentlicht. Mir war kein einziger davon bekannt.
Als Nächstes suchte ich unter den Zeitschriften. Nichts. Beryl hatte wohl ausschließlich Bücher geschrieben. Anscheinend hatte sie in Magazinen weder etwas veröffentlicht, noch war jemals ein Interview darin erschienen. Vielleicht erwiesen sich Zeitungsausschnitte als ergiebiger. In der Richmond Times waren im Lauf der letzten Jahre ein paar Buchbesprechungen erschienen. Aber sie waren nutzlos, denn die Autorin war darin unter ihren Pseudonymen aufgeführt, Beryls Mörder hingegen hatte sie unter ihrem richtigen Namen gekannt.
Eine Seite nach der anderen flimmerte in unscharfen Buchstaben über den Bildschirm. »Maberly«, »Macon« und schließlich »Madison«. In der Times vom November vergangenen Jahres fand ich eine kurze Meldung über
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