Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
mir vor dem Gespräch gestern Nacht gekommen wäre. Bei den meisten Sexualverbrechen fehlt ein eindeutiges Motiv im klassischen Sinn. Die Täter begehen das Verbrechen, weil sie es genießen und die Gelegenheit gerade günstig ist.
»Ein Kumpel von mir ist Polizist in Williamsburg«, sagte Marino. »Er hat mir einmal erzählt, dass Harper eine echte Ratte ist, ein Eigenbrötler. Fährt herum in einem alten Rolls-Royce und spricht mit niemandem. Lebt in dem großen Herrenhaus am Fluss, in das er keinen hineinlässt. Und der Kerl ist alt , Doc.«
»So alt nun auch wieder nicht«, widersprach ich, »vielleicht Mitte fünfzig. Aber es stimmt, er lebt zurückgezogen. Ich glaube, zusammen mit seiner Schwester.«
»Es scheint ein bisschen weit hergeholt«, sagte Wesley, »aber schauen Sie doch einmal, wie weit Sie der Sache nachgehen können, Pete. Vielleicht hat Harper wenigstens eine Idee, wer dieser ›M‹ sein könnte, dem Beryl geschrieben hat. Offensichtlich ist es jemand, den sie gut gekannt hat, ein Freund oder ein Liebhaber. Irgendjemand da draußen muss doch wissen, wer er ist. Wenn wir das herausfinden, sind wir schon ein Stück weiter.«
Marino gefiel das nicht. »Ich weiß, wovon ich rede«, beharrte er. »Dieser Harper wird nicht freiwillig mit mir sprechen, und ich habe nicht genügend in der Hand, um ihn dazu zu zwingen. Ich glaube auch nicht, dass er Beryl umgebracht hat, auch wenn er vielleicht ein Motiv dafür hätte. Ich meine, er hätte sie einfach abgemurkst und damit basta. Wozu die Geschichte sechs, sieben Monate in die länge ziehen? Außerdem hätte sie seine Stimme erkannt, wenn er der Anrufer gewesen wäre.«
»Harper hätte jemanden damit beauftragen können«, sagte Wesley.
»Gut. Und wir hätten sie dann eine Woche später mit einer schönen, sauberen Schusswunde im Hinterkopf gefunden«, antwortete Marino. »Professionelle Killer schleichen nicht wochenlang um ihre Opfer herum, bedrohen sie nicht, benutzen kein Messer zum Töten. Außerdem vergewaltigen sie ihre Opfer normalerweise nicht.«
»Die meisten von ihnen tun das nicht«, bestätigte Wesley, »aber wir sind nicht sicher, ob überhaupt eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Wir haben keine Samenflüssigkeit gefunden.«
Er schaute zu mir herüber, und ich nickte zustimmend. »Vielleicht war der Kerl funktionsgestört. Andererseits legte er ihren Körper vielleicht so hin, dass wir ein Sexualdelikt vermuten mussten. Wenn wirklich jemand für dieses Verbrechen angeheuert wurde, kommt es darauf an, um wen es sich dabei handelte und welchen Plan er ausführen sollte. Wenn Beryl zum Beispiel zu einer Zeit erschossen aufgefunden worden wäre, in der sie sich mitten in einem Streit mit Harper befand, hätte ihn die Polizei ganz oben auf ihre Verdachtsliste gesetzt. Wenn aber ihr Tod wie das Werk eines sexuellen Sadisten aussieht, denkt niemand an Harper.«
Marino starrte unbewegt auf das Regal im Hintergrund. Sein fleischiges Gesicht war gerötet. Langsam und beunruhigend blickte er zu mir herüber und fragte: »Was wissen Sie sonst noch über das Buch, an dem sie schrieb?«
»Nur das, was ich schon erzählt habe. Es war autobiographisch,und wahrscheinlich bedrohte es Harpers guten Ruf«, antwortete ich.
»Hat sie daran dort unten in Key West gearbeitet?«
»Das nehme ich an. Ich bin mir allerdings nicht sicher«, gestand ich.
Er zögerte. »Nun, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wir haben nichts dergleichen in ihrem Haus gefunden.«
Sogar Wesley war erstaunt. »Und das Manuskript in ihrem Schlafzimmer?«
»Ach das.« Marino griff nach seinen Zigaretten. »Ich habe kurz hineingeschaut. Es ist so eine Bürgerkriegsromanze mit viel Herz und Schmerz. Ganz bestimmt nicht das, wovon Doc Scarpetta gesprochen hat.«
»Hat es einen Titel, oder steht ein Datum drauf?«, fragte ich.
»Nein. Es scheint nicht einmal vollständig zu sein. Es war nicht dicker als so ...« Marino zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger einen Spalt von etwa zweieinhalb Zentimetern. »An den Rändern seiner Seiten waren jede Menge handschriftliche Änderungen notiert, und etwa zehn Seiten waren ganz mit der Hand geschrieben.«
»Wir sollten alle ihre Papiere und ihre Computerdisketten noch einmal gründlich durchgehen, ob sich nicht doch irgendwo dieses autobiographische Manuskript findet«, forderte Wesley.
»Außerdem müssen wir herausfinden, ob sie einen Literaturagenten hatte und wer ihr Verleger war. Vielleicht hat sie jemandem das
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