Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
ist, denn auf den Straßen war der Teufel los. Erst am Morgen konnte ein Beamter bei ihr vorbeischauen, Jim Reed, seit fünf Jahren in der Abteilung.« Er schaute hoch zu mir.
Ich schüttelte den Kopf. Reed kannte ich nicht.
Marino begann den Bericht zu überfliegen. »Reed nahm also die Anzeige auf. Beryl Madison war sehr erregt und gab zu Protokoll, sie habe am Sonntagabend um acht Uhr fünfzehn einen Telefonanruf erhalten, in dem jemand sie bedroht habe. Eine Stimme, die sie als männlich und möglicherweise einem Weißen gehörend identifizierte, hatte Folgendes gesagt: ›Ich glaube, du hast mich vermisst, Beryl. Aber ich passe ständig auf dich auf, auch wenn du mich nicht sehen kannst. Ich sehe dich. Du kannst zwar weglaufen, aber du kannst dich nicht verstecken.‹
Weiter steht in dem Protokoll: Der Anrufer erklärte, dass er Miss Madison beobachtet habe, wie sie vor einem Supermarkt am Morgen eine Zeitung gekauft habe. Er beschrieb genau, was sie angehabt hatte: ›Einen roten Jogging-Anzug und keinen BH.‹ Sie bestätigte, dass sie gegen zehn Uhr zu dem Supermarkt in der Rose Mount Avenue gefahren sei und genau diese Sachen getragen habe. Sie hatte vor dem Supermarkt geparkt und die Washington Post aus einem Verkaufsautomaten genommen. Sie war nicht in den laden gegangen und hatte auch in dieser Gegend niemanden bemerkt. Dass der Anrufer diese Einzelheiten wusste, versetzte sie in Schrecken, und sie vermutete, dass er sie verfolgt habe. Die Frage, ob sie jemals bemerkt habe, dass ihr jemand gefolgt sei, verneinte sie allerdings.«
Marino wandte sich der zweiten Seite zu, dem internen Teil des Berichts, und fasste zusammen: »Reed schreibt hier, dass Miss Madison offensichtlich nicht bereit gewesen sei, im Einzelnen zu erläutern, womit ihr der Anrufer gedroht habe. Wiederholt danach befragt, äußerte sie nur, dass der Anrufer ›obszön‹ geworden sei und gemeint habe, wenn er sich vorstelle, wie sie nackt aussähe, dann wolle er sie ›töten‹. An dieser Stelle, sagte Miss Madison, habe sie aufgelegt.«
Marino legte die Fotokopie auf den Rand von Wesleys Schreibtisch.
»Was hat Officer Reed ihr geraten?«, fragte ich.
»Das Übliche«, sagte Marino. »Er riet ihr, sich Aufzeichnungenzu machen. Wenn sie wieder einen Anruf erhielte, solle sie Datum, Uhrzeit und den Inhalt des Gesprächs aufschreiben. Er empfahl ihr auch, ihre Türen abzuschließen, die Fenster geschlossen zu halten und vielleicht eine Alarmanlage einbauen zu lassen. Und wenn ihr irgendwelche Autos verdächtig vorkämen, solle sie die Nummer notieren und die Polizei verständigen.«
Ich dachte daran, was Mark mir über sein Mittagessen mit Beryl im vergangenen Februar erzählt hatte. »Hat sie gesagt, dass diese Drohung, die sie am 11. März zu Protokoll gegeben hat, die erste gewesen sei, die sie erhalten habe?«
Jetzt antwortete Wesley, während er sich den Bericht angelte: »Anscheinend nicht.« Er blätterte um. »Wie Reed hier schreibt, hat sie erklärt, sie habe seit Anfang des Jahres belästigende Anrufe bekommen, die Polizei aber erst jetzt davon in Kenntnis gesetzt. Es scheint so, dass die früheren Anrufe weniger häufig und auch nicht so eindeutig gewesen waren wie der, den sie an diesem Sonntagabend, dem 10. März, erhielt.«
»War sie sicher, dass die früheren Anrufe von demselben Mann stammten?«, fragte ich Marino.
»Sie sagte Reed, dass die Stimme gleich geklungen habe«, antwortete er. »Es war die eines Weißen, leise und artikuliert. Die Stimme gehörte niemandem aus ihrem Bekanntenkreis, wenigstens behauptete sie das.«
Marino nahm den zweiten Bericht in die Hand und fuhr fort: »Beryl rief Officer Reed am Dienstagabend um sieben Uhr achtzehn über seinen Pager an. Sie sagte, sie müsse ihn sehen, und er kam weniger als eine Stunde später zu ihr ins Haus, kurz nach acht also. Wieder war sie, diesem Bericht zufolge, völlig durcheinander. Sie sagte, sie habe einen weiteren Drohanruf erhalten und sofort danach die Nummer von Reeds Pager angerufen. Es war derselbe Mann, dieselbe Stimme wie das letzte Mal. Und der Inhalt war auch ähnlich wie bei dem Anruf am 10. März.«
Marino zitierte wörtlich aus dem Bericht: »›Ich weiß, dass du mich vermisst hast, Beryl. Ich werde bald zu dir kommen. Ich weiß, wo du wohnst, ich weiß alles über dich. Du kannst weglaufen,aber du kannst dich nicht vor mir verstecken.‹ Dann sagte er noch, er wisse genau, dass sie ein neues Auto fahre, einen schwarzen Honda, und
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