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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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einsam war. Dass sie beachtet werden und das Gefühl haben wollte, dass sich jemand um sie kümmert. Oder dass irgendein Kerl sie sitzengelassen hat und das ganze Theater der Auftakt zu einem Rachefeldzug gegen ihn war.«
    »Richtig!«, entfuhr es mir, bevor ich mich zurückhalten konnte. »Und wenn ihr Ehemann oder ihr Freund gedroht hätte, sie zu töten, hätten Sie auch nichts anderes gedacht. Und Beryl wäre ganz genauso gestorben.«
    »Vielleicht«, sagte Marino gereizt. »Aber wenn es ihr Ehemann gewesen wäre – vorausgesetzt, sie hätte einen gehabt –, dann hätte ich wenigstens einen gottverdammten Verdächtigen, und der Richter könnte einen gottverdammten Haftbefehl für den Penner erlassen.«
    »Haftbefehle sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind«, gab ich zurück. Mein Ärger brachte mich an die Grenzen meiner Selbstkontrolle. Es verging nicht ein Jahr, in dem ich nicht ein halbes Dutzend Frauen obduzieren musste, die von Ehemännern oder Freunden, gegen die ein Richter einen Haftbefehl erlassen hatte, auf brutalste Weise getötet worden waren.
    Nach einer langen Pause fragte ich Wesley: »Hat Reed eigentlich nie vorgeschlagen, ihr Telefon zu überwachen?«
    »Das hätte nichts genützt«, antwortete er, »Telefone anzuzapfen oder Fangschaltungen zu legen ist nicht einfach. Die Telefongesellschaft verlangt eine lange Liste von Anrufen und stichfeste Beweise, dass die Belästigung wirklich stattgefunden hat.«
    »Hatte sie denn keine stichhaltigen Beweise?«
    Wesley schüttelte langsam den Kopf. »Dazu wären mehr Anrufe nötig gewesen, als sie erhalten hat, Kay. Eine ganze Mengemehr. Und sie hätten mit einer gewissen Regelmäßigkeit erfolgen müssen, eindeutig belegt. Ohne all das können Sie eine Fangschaltung vergessen.«
    »Wie es scheint«, fügte Marino an, »hat Beryl nur einen oder zwei dieser Anrufe im Monat bekommen. Und sie hat die verflixten Aufzeichnungen, die Reed ihr ans Herz gelegt hatte, nicht geführt. Wenigstens haben wir sie bisher noch nicht gefunden. Anscheinend hat sie auch keinen der Anrufe auf Tonband aufgenommen.«
    »Großer Gott«, sagte ich, »da bedroht dich jemand mit dem Tod, und du brauchst einen verdammten Kongressbeschluss, damit das irgendjemand ernst nimmt.«
    Wesley antwortete nicht.
    Marino schnaubte verächtlich. »Das ist doch dasselbe wie bei Ihnen, Doc. Da gibt es ja auch keine vorbeugende Medizin. Wir sind auch nichts anderes als eine verdammte Putzkolonne, die nach einem Verbrechen aufräumen muss. Solange nicht knallharte Beweise vorliegen, wie zum Beispiel eine Leiche, sind uns die Hände gebunden.«
    »Beryls Benehmen hätte eigentlich Beweis genug sein müssen«, antwortete ich. »Schauen Sie sich doch nur diese Berichte an. Sie hat alles getan, was Officer Reed ihr vorgeschlagen hat. Er sagte, sie solle sich eine Alarmanlage einbauen lassen, und sie hat es getan. Er sagte, sie solle den Wagen in der Garage parken, und sie hat es ebenfalls getan, obwohl sie die Garage in ein Büro umwandeln wollte. Sie hat sich von ihm wegen einer Handfeuerwaffe beraten lassen, ist losgegangen und hat sich eine gekauft. Und jedes Mal telefonierte sie mit Reed, sofort nachdem der Mörder sie angerufen hatte. Sie hat also nicht Stunden oder Tage gewartet und dann erst die Polizei verständigt.«
    Wesley breitete Papiere auf seinem Schreibtisch aus. Fotokopien von Beryls Briefen aus Key West, den Bericht und die Skizzen vom Tatort und eine Serie von Polaroidbildern, die den Hof und die Innenräume ihres Hauses und schließlich ihre Leiche in dem Zimmer im ersten Stock zeigten. Er studierte allesschweigend und mit hartem Gesichtsausdruck. Es war das Signal, fortzufahren. Wir hatten uns lange genug gegenseitig Vorwürfe gemacht. Was die Polizei getan oder unterlassen hatte, war nicht mehr wichtig. Jetzt galt es, den Mörder zu finden.
    »Was mir Kopfzerbrechen bereitet«, begann Wesley, »sind einige Widersprüche im Obduktionsbefund. Die Drohanrufe, die sie bekam, deuten darauf hin, dass der Täter vermutlich ein Psychopath ist. Jemand, der Beryl monatelang nachgeschlichen ist und sie bedroht hat, jemand, der sie nur aus der Ferne gekannt zu haben scheint. Ganz ohne Zweifel zog er die meiste Befriedigung aus seinen Phantasien, aus der Phase vor dem eigentlichen Verbrechen. Vielleicht hat er nur deshalb endgültig zugeschlagen, weil sie ihn durch ihre Flucht aus der Stadt frustriert hatte. Vielleicht fürchtete er, dass sie für immer wegziehen könnte, und

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