Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
beobachten. Und sie zögern nicht, auf Streifen auf der Windschutzscheibe oder übersehene Schmutzflecken aufmerksam zu machen.«
»Mögen Sie diese Art von Frauen?«, fragte Marino.
Er zögerte. »Ehrlich gesagt: nein, Sir.«
Marino lachte, beugte sich vor und vertraute ihm an: »Hey, ich mag diesen Typ auch nicht. Da gefallen mir die Pastellmiezen schon besser.«
Ich bedachte den realen Marino mit einem schrägen Blick.
Er beachtete mich nicht, und der Marino auf dem Bildschirm sagte zu Hunt: »Erzählen Sie mir mehr über Beryl, über das, was sie ausgesendet hat.«
Hunt runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »An den Pastellfarben, die sie aussandte, war eigentlich nichts ungewöhnlich, es sei denn, dass sie auf mich nicht so zerbrechlich wirkten. Und auch nicht passiv. Diese Farben waren kühler, arktisch, wie ich schon gesagt habe, und nicht blumenfarben wie sonst. So, als wolle sie in Ruhe gelassen werden, als wolle sie auf Distanz bleiben und ihre Freiheit haben.«
»Wirkte sie nicht vielleicht auch ein wenig frigide?«
Hunt fingerte wieder an seiner 7-Up-Dose herum. »Nein, Sir, ich glaube, das würde ich nicht sagen. Ich denke nicht, dass ich so etwas empfangen habe. Sie strahlte einfach Distanziertheit aus. Eine starke Distanziertheit, die man hätte überwinden müssen, wenn man ihr hätte näherkommen wollen. Wenn es aber tatsächlich jemand gegen ihren Widerstand geschafft hätte, dann wäre er an ihr verbrannt. Hier haben wir die weiß glühenden Signale, die sie für mich so außergewöhnlich machten. Sie strahlte eine unglaubliche Intensität aus. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass sie hochintelligent und sehr kompliziert war. Sogar wenn sie allein auf ihrer Bank saß und niemanden beachtete, war ihr Verstand an der Arbeit und nahm alles, was um sie herum geschah, auf. Sie war so weit entfernt und weißglühend wie ein Stern.«
»Wissen Sie, ob sie allein lebte?«
»Sie trug keinen Ehering«, antwortete Hunt sofort. »Ich nahm an, dass sie allein sei. Auch an ihrem Auto entdeckte ich nichts, was auf das Gegenteil hingedeutet hätte.«
»Das verstehe ich nicht.« Marino sah verwirrt aus. »Wie können Sie das an ihrem Auto erkennen?«
»Als sie zum zweiten- oder dritten Mal da war, sah ich zu, wie einer der Jungs das Innere ihres Autos säuberte, und konnte nichts Männliches darin entdecken. Da war, zum Beispiel, ihr Regenschirm. Er lag auf dem Boden unter den Rücksitzen, einer von diesen schlanken, blauen Regenschirmen, wie sie üblicherweise nur Frauen besitzen. Männer bevorzugen im Gegensatz dazu schwarze Schirme mit großen Holzgriffen. Auf dem Rücksitz lagen ein paar tüten von der Reinigung, die aussahen, als seien nur Frauenkleider darin, keine Männeranzüge. Die meisten verheirateten Frauen nehmen die Kleidung ihrer Männer aus der Reinigung mit, wenn sie ihre eigene abholen. Und dann der Kofferraum. Keine Werkzeuge, Starthilfekabel oder Ähnliches. Überhaupt nichts Männliches. Es kommt Ihnen vielleicht komisch vor, aber wenn Sie den ganzen Tag lang Autos sehen, fangen Sie an, solche Einzelheiten zu bemerken und Mutmaßungen über die Fahrer anzustellen, ohne dass es Ihnen bewusst wird.«
»Es sieht so aus, als wäre es Ihnen aber in Beryls Fall bewusst geworden«, erwiderte Marino. »Haben Sie jemals daran gedacht, sie zu fragen, ob sie mit Ihnen ausgehen will, Al? Sind Sie sicher, dass Sie ihren Namen wirklich nicht wussten, dass Sie nicht vielleicht doch mal kurz auf den Zettel der chemischen Reinigung geschaut haben oder auf einen Briefumschlag, der zufällig in ihrem Auto lag?«
Hunt schüttelte den Kopf. »Ich wusste ihren Namen nicht. Vielleicht wollte ich ihn gar nicht wissen.«
»Warum nicht?«
»Keine Ahnung ...« Er wurde unruhig und konfus.
»Na los, Al. Mir können Sie’s doch sagen. Hey, wahrscheinlich hätte ich sie auch gefragt, ob sie mit mir ausgehen will. Also, ichhätte mir da was einfallen lassen und mir irgendwie hintenrum ihren Namen beschafft, vielleicht hätte ich sie sogar angerufen.«
»Also ich jedenfalls habe das nicht getan«, beharrte Hunt und starrte auf seine Hände. »Ich habe nichts von dem, was Sie da sagen, getan.«
»Und warum nicht?«
Stille.
Dann fuhr Marino fort: »Vielleicht, weil Sie schon einmal eine Frau wie sie hatten, eine, die Sie verbrannt hat?«
Schweigen.
»Hey, das ist doch jedem von uns schon mal passiert, Al.«
»Im College«, antwortete Hunt, kaum hörbar. »Ich ging damals zwei Jahre lang mit
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