Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
herum, während die Angestellten ihre Autos polieren. Viele Kunden sind sehr aufmerksam, wenn Sie wissen, was ich meine. Sie behalten ihre Autos im Auge, damit auch wirklich alles erledigt wird. Manche von ihnen schnappen sich ein Tuch und helfen mit, besonders, wenn sie in Eile sind. Oder sie können einfach nicht stillstehen.«
»Was für eine Art von Kunde war Beryl? Hat sie ihr Auto im Auge behalten?«
»Nein, Sir. Sie setzte sich normalerweise auf eine der Bänke, die wir draußen aufgestellt haben. Manchmal las sie die Zeitung oder ein Buch. Sie hat sich eigentlich nicht um die Angestellten gekümmert und war nicht besonders leutselig. Vielleicht ist sie mir deshalb aufgefallen.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Marino.
»Ich meine damit, dass sie Signale ausgesendet hat. Ich habe sie empfangen.«
»Signale?«
»Die Leute senden alle möglichen Signale aus«, erklärte Hunt. »Ich kann sie verstehen. Ich empfange sie. Anhand der Signale, die eine Person aussendet, kann ich viel über sie sagen.«
»Sende ich Signale aus, Al?«
»Ja, Sir. Jeder sendet welche aus.«
»Und was für Signale sende ich aus?«
Hunts Gesicht war überaus ernst, als er antwortete: »hellrot.« »Wie?« Marino sah verdutzt aus.
»Ich empfange diese Signale als Farben. Vielleicht finden Sie das merkwürdig, aber ich bin nicht der Einzige. Es gibt einige Menschen, die von anderen ausgestrahlte Farben spüren können. Das sind die Signale, von denen ich spreche. Und die, die ich von Ihnen empfange, sind hellrot. Einerseits warm, andererseits gereizt. Wie ein Warnsignal. Es zieht einen in seinen Bann, aber es sagt auch, dass da eine Art Gefahr lauert ...«
Marino stoppte das Band und grinste mich dabei verschlagen an.
»Ist der Kerl plemplem oder nicht?«, fragte er.
»Also mir kommt er eigentlich ziemlich clever vor«, erwiderte ich, »Sie sind irgendwie warm, wütend und gefährlich.«
»Unfug, Doc. Der Kerl hat einen hau weg. Wenn man dem glaubt, dann sind die Leute ein einziger, verdammter Regenbogen.«
»Was er sagt, ist aus psychologischer Sicht nicht ganz falsch«, bemerkte ich schlicht. »Viele Gefühle werden mit Farben assoziiert. Aufgrund dieser Erkenntnisse wählt man bestimmte Farbenfür öffentliche Gebäude, Hotelzimmer und Irrenhäuser aus. Blau, zum Beispiel, verbindet man mit Depressionen. Sie werden kaum ein blau gestrichenes Zimmer in einem psychiatrischen Krankenhaus finden. Rot steht für Wut, Gewalt und Leidenschaft. Schwarz ist morbid, unheilvoll und so weiter. Ich erinnere mich, dass Sie gesagt haben, Hunt habe einen Magister in Psychologie.«
Marino sah verärgert aus und ließ das Band weiterlaufen.
»... ich vermute, das könnte etwas mit der Rolle zu tun haben, die Sie spielen. Sie sind Kriminalpolizist«, sagte Hunt. »Im Moment brauchen Sie meine Aussage, aber darüber hinaus trauen Sie mir nicht, und wenn ich etwas zu verbergen hätte, könnten Sie mir sogar gefährlich werden. So viel zum warnenden Teil des hellen Rot. Der warme ist Ihre extrovertierte Persönlichkeit. Sie wollen, dass sich die Leute bei Ihnen wohl fühlen. Vielleicht suchen Sie die Nähe anderer Menschen. Sie tun so, als seien Sie knallhart, aber eigentlich wollen Sie, dass die Leute Sie mögen ...«
»Okay«, unterbrach Marino. »Kommen wir auf Beryl Madison zurück. Haben Sie von ihr auch Farben empfangen?«
»O ja. Das hat mich sofort an ihr fasziniert. Sie war anders, wirklich anders.«
»Wie?« Marinos Stuhl knarzte laut, als er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte.
»Sehr zurückhaltend«, antwortete Hunt. »Ich empfing arktische Farben von ihr. Kühles Blau, helles Gelb wie schwaches Sonnenlicht und ein Weiß, so kalt, dass es schon wieder heiß war, wie Trockeneis. Es erweckte den Eindruck, als würde jeder verbrennen, der sie berührte. Dieses Weiß war es, was sie so einmalig machte. Von vielen Frauen empfange ich Pastellfarben. Weibliche Farben, in denen sie sich auch kleiden. Rosa, Gelb, zarte Blau- und Grüntöne. Diese Ladys sind passiv, kühl und zerbrechlich. Manchmal sehe ich eine Frau, die dunklere, stärkere Farben aussendet, wie Marineblau oder Burgunderrot. Die ist dann von einem stärkeren Typ. Normalerweise aggressiv, vielleicht eine Anwältin oder Ärztin oder auch eine Geschäftsfrau. Solche Frauentragen häufig auch ein Kostüm in diesen Farben. Sie bleiben oft bei ihren Autos stehen und stemmen die Hände in die Hüften, während sie alles, was die Angestellten tun, genau
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