Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie drehte durch. Von der Waschstraße fuhr sie direkt zu ihrer Bank.Ich habe mich dort erkundigt. Am 12. Juli hat sie um zwölf Uhr fünfzig fast zehntausend Dollar in bar abgehoben. Sie war dort eine sehr gute Kundin gewesen, und niemand hat ihr eine Frage gestellt, weil sie ihr Konto aufgelöst hat.«
»Hat sie sich das Geld in Reiseschecks geben lassen?«
»Nein, ob Sie’s glauben oder nicht«, antwortete er. »Deswegen vermute ich, dass sie mehr Angst davor hatte, entdeckt zu werden, als davor, dass man sie ausraubt. Sie hat da unten auf den Keys alles bar bezahlt. Wenn sie keine Kreditkarte oder einen Reisescheck benutzte, musste sie auch niemandem ihren Namen sagen.«
»Sie muss wirklich fürchterliche Angst gehabt haben«, bemerkte ich ruhig. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, so viel Bargeld mit mir herumzuschleppen. Dazu müsste ich entweder verrückt oder aber bis zur Verzweiflung verängstigt sein.«
Er zündete sich eine Zigarette an. Ich tat dasselbe. Ich löschte das Streichholz und fuhr fort: »Halten Sie es für möglich, dass das Herz in die Wagentür gekratzt wurde, während der Wagen in der Waschanlage war?«
»Ich habe Hunt dieselbe Frage gestellt, um zu sehen, wie er darauf reagiert«, antwortete Marino. »Er beteuerte, dass es in der Waschanlage niemand hätte tun können, ohne dabei beobachtet zu werden. Ich für meinen teil bin mir da nicht so sicher. Verdammt, wenn man in einem solchen Schuppen bloß fünfzig Cent im Auto liegenlässt, sind sie weg, wenn man die Karre wiederbekommt. Die Leute dort klauen wie die Raben. Geld, Regenschirme, Scheckbücher, alles Mögliche verschwindet einfach, und niemand hat irgendwas gesehen, wenn man nachfragt. Hunt hätte es selber tun können, wenn Sie mich fragen.«
»Er ist ein bisschen sonderbar«, gab ich zu. »Ich finde es merkwürdig, dass Beryl ihm so sehr auffiel. Sie war doch nur einer von vielen Leuten, die jeden Tag durch die Waschanlage fahren. Wie häufig kam sie wohl dorthin? Einmal im Monat oder noch seltener?«
Er nickte. »Aber ihm fiel sie auf wie ein bunter Hund. Mag sein,dass er vollkommen unschuldig ist. Aber vielleicht ist er es auch nicht.«
Ich dachte daran, dass Mark gesagt hatte, Beryl sei »bemerkenswert« gewesen.
Marino und ich tranken schweigend unseren Kaffee, und meine Gedanken verfinsterten sich wieder. Mark. Es war sicher alles ein Missverständnis, es musste einfach eine logische Erklärung dafür geben, warum man ihn bei Orndorff & Berger nicht kannte. Vielleicht hatte man seinen Namen im Telefonverzeichnis vergessen, oder die Firma war erst kürzlich auf Computer umgestellt worden, und man hatte ihn falsch eingegeben, so dass sein Name dem Rechner unbekannt war, wenn ihn die Empfangsdame eintippte. Vielleicht waren beide Empfangsdamen noch nicht lange in der Firma und kannten noch nicht alle Anwälte. Aber warum stand er nicht im Chicagoer Telefonbuch?
»Sie sehen aus, als ob Sie an irgendetwas herumkauen würden«, sagte Marino schließlich, »Und zwar die ganze Zeit schon, seit ich hier bin.«
»Ich bin nur müde«, entgegnete ich.
»Unfug!« Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
Ich verschluckte mich fast an meinem, als er fortfuhr: »Rose hat mir erzählt, dass Sie verreist waren. Hatten Sie einen kleinen, produktiven Plausch mit Sparacino in New York?«
»Wann hat Rose Ihnen das erzählt?«
»Das tut nichts zur Sache. Und werden Sie nicht wütend auf Ihre Sekretärin«, antwortete er. »Sie erwähnte nur, dass Sie etwas außerhalb der Stadt zu tun hätten. Sie sagte nicht, wo, mit wem und wozu. Das habe ich allein herausgefunden.«
»Wie?«
»Sie haben es mir doch eben erzählt«, erwiderte er. »Indem Sie es nicht abgestritten haben, oder? Also, worüber haben Sie mit Sparacino gesprochen?«
»Er behauptete, mit Ihnen gesprochen zu haben. Vielleicht sollten Sie mir zuerst von dieser Unterhaltung berichten«, antwortete ich.
»Da gibt es nichts zu berichten.« Marino holte seine Zigarette wieder aus dem Aschenbecher. »Er rief mich neulich abends zu Hause an. Fragen Sie mich nicht, wo, um alles in der Welt, er meinen Namen und meine Telefonnummer herhatte. Er verlangte Beryls Papiere, und ich wollte sie ihm nicht aushändigen. Vielleicht hätte ich mich ja ein wenig kooperativer gezeigt, wenn der Kerl nicht so ein Arschloch gewesen wäre. Fing an herumzukommandieren und benahm sich wie King Louie höchstpersönlich. Sagte, er sei ihr
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