Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
sie vielleicht schon mal hier gesehen hat und – bingo! Er wird nervös.«
unwillkürlich dachte ich, dass ich wohl auch nervös werden würde, wenn Marino zu mir »rübergetrabt« käme. Er hatte den armen Mann vermutlich überfahren wie ein Fernlaster.
»Was passierte dann?«, fragte ich.
»Wir gingen rein, tranken Kaffee und redeten ein ernstes Wörtchen miteinander«, antwortete Marino. »Dieser Al Hunt hat sie wahrlich nicht alle beieinander. Zuallererst einmal: Der Kerl war auf dem College. Er machte seinen Magister in Psychologie, und danach hat er ein paar Jahre als Krankenpfleger im Metropolitan Hospital gearbeitet. Können Sie sich das vorstellen? Und als ich ihn frage, warum er denn in dem Krankenhaus aufgehört hat und nun bei Masterwash arbeitet, finde ich heraus, dass der ganzeSchuppen seinem Alten gehört. Papa Hunt hat überall in der Stadt seine Finger mit drin. Masterwash ist nur eine von seinen Klitschen. Er betreibt außerdem noch ein paar Parkplätze und ist Besitzer von fast der Hälfte aller Mietbruchbuden an der Northside. Eigentlich müsste Klein Al doch darauf vorbereitet werden, einmal in Daddys Fußstapfen zu treten, oder?« Die Sache fing an, interessant zu werden.
»Aber Al hat keinen Anzug an, obwohl er aussieht, als sollte er in einem stecken, und das heißt nichts anderes, als dass dieser Al ein Verlierer ist. Sein alter Herr vertraut ihm nicht genug, um ihn im Nadelstreifenanzug hinter einen Schreibtisch zu setzen. Ich meine, der Kerl steht da draußen in der Waschanlage und sagt den Pennern, wie sie den Lack wachsen und die Stoßstangen polieren sollen. Da kann doch irgendwas hier oben nicht ganz in Ordnung sein.« Er tippte mit einem fettigen Finger an seine Schläfe.
»Vielleicht sollten Sie darüber mal mit seinem Vater reden«, schlug ich vor.
»Richtig. Und der wird mir erzählen, dass sein hoffnungsvoller Sprössling eine taube Nuss ist.«
»Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?«, fragte ich.
»Ich bin schon weiter vorgegangen«, antwortete er. »Schauen Sie sich das Videoband an, das ich mitgebracht habe, Doc. Ich habe den ganzen Morgen mit Al Hunt auf dem Präsidium verbracht. Der Kerl kann einem ein Loch in den Bauch reden, und er interessiert sich auffällig für das, was Beryl zugestoßen ist. Er sagt, er habe darüber in den Zeitungen gelesen ...«
»Woher wusste er, wer Beryl war?«, unterbrach ich. »Die Zeitungen und die Fernsehsender haben keine Fotos von ihr gebracht. Hat er ihren Namen erkannt?«
»Er sagte, er habe keine Ahnung gehabt, dass sie die blonde Lady aus der Waschstraße sei, bevor ich ihm das Bild auf ihrem Führerschein gezeigt habe. Dann spielte er den Geschockten und wäre fast zusammengebrochen. Er saugte mir die Worte förmlich von den Lippen, wollte unbedingt über sie reden und war überhaupt viel zu interessiert für jemanden, der sie angeblich überhauptnicht kannte.« Er legte seine verknitterte Serviette auf den Tisch. »Aber am besten schauen Sie es sich selber an.«
Ich räumte das schmutzige Geschirr ab und setzte eine Kanne Kaffee auf. Dann gingen wir ins Wohnzimmer und starteten das Videoband. Ich kannte die Szenerie recht gut. Das Verhörzimmer des Polizeipräsidiums war klein und holzgetäfelt, mit nichts als einem leeren Tisch in der Mitte. Neben der Tür befand sich ein Lichtschalter, dessen oberste Schraube fehlte, was aber nur Eingeweihten oder Experten auffallen konnte. Hinter diesem winzigen schwarzen Loch befand sich eine Spezialkamera mit einem extremen Weitwinkelobjektiv und ein Videoraum. Auf den ersten Blick sah Al Hunt nicht gerade furchterregend aus. Er war hellblond, hatte eine teigige Gesichtsfarbe und Geheimratsecken. Er hätte eigentlich nicht schlecht ausgesehen, hätte er nicht ein stark fliehendes Kinn gehabt, so dass sein Gesicht direkt in seinen Hals überzugehen schien. Er trug Jeans und eine kastanienfarbene Lederjacke. Seine spitzen Finger fummelten nervös mit einer Dose 7 up, während er Marino, der ihm direkt gegenübersaß, beobachtete.
»Wie war das mit Beryl Madison genau?«, fragte Marino. »Warum ist sie Ihnen aufgefallen? Es kommen doch jeden Tag eine Menge Wagen in Ihre Waschstraße. Können Sie sich denn an alle Ihre Kunden erinnern?«
»An mehr, als Sie vielleicht annehmen«, antwortete Hunt. »Ganz besonders an Kunden, die regelmäßig kommen. Kann sein, dass ich mich nicht an ihre Namen erinnere, aber dafür umso mehr an ihre Gesichter, denn die meisten Leute stehen draußen bei mir
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