Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Nachlassverwalter, und drohte mir sogar.«
»Und Sie haben sich elegant aus der Affäre gezogen, indem Sie diesen Haifisch an mein Büro weiterverwiesen haben«, warf ich ihm vor.
Marino schaute mich mit leerem Gesichtsausdruck an. »Nein. Ich habe Sie nicht einmal erwähnt.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Die ganze Unterhaltung dauerte ungefähr drei Minuten, nicht länger. Ihr Name wurde überhaupt nicht genannt.«
»Was ist mit dem Manuskript, das Sie im Polizeibericht aufgelistet haben? Hat Sie Sparacino danach gefragt?«
»Ja«, bestätigte Marino. »Ich habe ihm keine Einzelheiten erzählt. Ich sagte ihm, dass alle ihre Papiere als Beweismittel untersucht würden, und dann noch das Übliche, dass ich nicht befugt sei, über diesen Fall mit ihm zu sprechen.«
»Sie haben ihm nicht gesagt, dass Sie dieses Manuskript meinem Büro übergeben haben?«, fragte ich.
»Ganz sicher nicht.« Er sah mich merkwürdig an. »Warum hätte ich ihm das sagen sollen? Es stimmt doch gar nicht. Ich habe Vander das Ding auf Fingerabdrücke untersuchen lassen. Dabei stand ich neben ihm. Dann nahm ich es mit aus dem Haus. Ich habe es mit dem anderen Krempel in die Asservatenkammer gelegt, und da ist es jetzt noch.« Er hielt inne. »Warum? Was hat Sparacino Ihnen erzählt?«
Ich stand auf und holte frischen Kaffee. Dann schilderte ich Marino die ganze Geschichte. Als ich fertig war, starrte er michungläubig an, und etwas in seinen Augen machte mich ausgesprochen nervös. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich sah, dass Marino Angst hatte.
»Was werden Sie tun, wenn er Sie anruft?«, fragte er.
»Wenn Mark anruft?«
»Nein, die sieben Zwerge«, erwiderte Marino in sarkastischem Ton.
»Ich werde ihn um eine Erklärung bitten. Ich werde ihn fragen, wie er für Orndorff & Berger arbeiten und in Chicago leben kann, wenn er dort völlig unbekannt ist.« Ich wurde immer frustrierter. »Ich weiß nicht, aber ich werde versuchen, herauszufinden, was, in drei Teufels Namen, wirklich los ist.«
Marino schaute an mir vorbei, und seine Kiefermuskulatur arbeitete.
»Sie fragen sich, ob Mark etwas mit der Sache zu tun hat ... ob er mit Sparacino unter einer Decke steckt und in illegale Aktivitäten oder Verbrechen verwickelt ist«, vermutete ich und war kaum in der Lage, seinen Verdacht, der mich frösteln ließ, in Worte zu fassen.
Grollend zündete er wieder eine Zigarette an. »Was soll ich denn sonst denken? Sie haben Ihren Ex-Romeo mehr als zehn Jahre lang nicht mehr gesehen, haben weder mit ihm gesprochen noch auch nur ein einziges Wort von ihm gehört. Es ist, als ob er vom Erdboden verschluckt gewesen wäre. Dann steht er urplötzlich vor Ihrer Tür. Woher wollen Sie wissen, was er in all der Zeit wirklich gemacht hat? Das können Sie doch gar nicht. Alles, was Sie wissen, ist das, was er Ihnen erzählt hat ...«
Wir fuhren beide hoch, als das Telefon schrillte. Ich ging in die Küche und blickte automatisch auf meine Uhr. Es war nicht ganz zehn, und mein Herz zog sich vor Furcht zusammen, als ich den Hörer abnahm.
»Kay?«
»Mark?« Ich schluckte schwer. »Wo bist du?«
»Zu Hause. Ich bin zurück nach Chicago geflogen und gerade hereingekommen ...«
»Ich habe versucht, dich in New York und Chicago zu erreichen, im Büro ...«, stammelte ich. »Ich habe vom Flughafen aus angerufen.«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine bedeutungsvolle Pause.
»Hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Ich wollte nur anrufen, um dir zu sagen, wie leid es mir tut, dass alles so gelaufen ist, und um mich zu vergewissern, dass es dir gutgeht. Ich melde mich wieder.«
»Wo bist du?«, fragte ich wieder. »Mark? Mark!«
Ich hörte auf einmal nur noch das Freizeichen.
7
Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich verschlief das läuten des Weckers, verschlief die Zeit des Gottesdienstes und das Mittagessen, und als ich endlich aus dem Bett stieg, fühlte ich mich träge und aus dem Gleichgewicht geraten. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, was ich geträumt hatte, aber es war jedenfalls nichts Angenehmes gewesen.
Kurz nach sieben Uhr abends, als ich gerade Zwiebeln und Paprika für ein Omelett schnitt, klingelte das Telefon. Wenig später raste ich in meinem Auto den dunklen Highway 64 in östlicher Richtung entlang. Auf dem Armaturenbrett hatte ich einen Zettel befestigt, auf dem ich mir den Weg notiert hatte. Meine Gedanken bewegten sich wie ein festgefahrenes Computerprogramm in einer endlosen Schleife. Sie
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