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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Verletzungen an Kopf und Gesicht stammen von einem stumpfen Gegenstand.« Ich deutete mit einem blutigen, behandschuhten Finger auf die Leiche. »Die Wunde am Hals wurde ganz offensichtlich von einem scharfen Instrument verursacht, und zu den Schrotkugeln ist zu sagen, dass sie weder deformiert noch in seinen Körper eingedrungen sind.«
    Marino starrte verblüfft auf die überall herumliegenden Schrotkugeln.
    »Das war auch mein Eindruck«, bestätigte Poteat und nickte. »Der Schrot sah so aus, als wäre er nicht abgefeuert worden, aber ich war mir nicht ganz sicher. Dann sollten wir also wohl gar nicht erst nach einer Schrotflinte suchen. Eher nach einem Messer und einem stumpfen Gegenstand, vielleicht einem Wagenheber?«
    »Möglicherweise, aber nicht unbedingt«, antwortete ich. »Alles, was ich jetzt schon mit Sicherheit sagen kann, ist, dass sein Hals mit einem scharfen Instrument durchschnitten wurde und dass ihn jemand mit einem stumpfen, geraden Gegenstand geschlagen hat.«
    »Da kommen aber eine Menge Dinge in Frage, Doc«, meinte Poteat stirnrunzelnd.
    »Stimmt, alles Mögliche«, bestätigte ich.
    Obwohl ich wegen der Schrotkörner einen bestimmten Verdacht hegte, enthielt ich mich jeglicher Mutmaßungen. Aufgrund langer, leidvoller Erfahrung hatte ich gelernt, dass ganz allgemeine Feststellungen oft zu wörtlich genommen wurden. Einmal war die Polizei im Wohnzimmer eines Opfers seelenruhig an einer blutigen Tapeziernadel vorbeimarschiert, weil ich gesagt hatte, die Tatwaffe müsse »in etwa wie ein« Schaschlikspieß aussehen.
    »Sie können ihn jetzt wegbringen lassen«, sagte ich und streifte die Handschuhe ab.
    Harpers Leiche wurde in ein sauberes weißes Tuch gewickelt und in einen Leichensack mit Reißverschluss gepackt. Ich stand neben Marino und sah zu, wie der Krankenwagen langsam die dunkle, verlassene Auffahrt verließ. Ohne Blaulicht und Sirene, denn Leichentransporte haben es nicht mehr eilig. Der Schnee fiel jetzt dichter und blieb liegen.
    »Fahren Sie auch zurück?«, fragte Marino.
    »Warum, wollen Sie mich schon wieder verfolgen?« Ich lächelte nicht, als ich das sagte.
    Er starrte hinüber zu dem alten Rolls-Royce in seinem Kreisaus milchigem Licht. Schneeflocken schmolzen auf dem Kies der Auffahrt, der mit Harpers Blut getränkt war.
    »Ich habe Sie nicht verfolgt«, erwiderte Marino ernst. »Ich war schon fast wieder in Richmond, als ich die Nachricht über Funk bekam ...«
    »Fast wieder in Richmond?«, unterbrach ich ihn. »Fast schon wieder zurück von wo?«
    »Von hier«, sagte er und suchte in seinen Taschen nach dem Wagenschlüssel. »Ich hatte herausgefunden, dass Harper Stammgast in Culpeper’s Tavern war. Also beschloss ich, ihn mir vorzuknöpfen. Ich fuhr hin und redete eine halbe Stunde mit ihm, bis er mir zu verstehen gab, dass ich mich gefälligst verpissen sollte. Dann ging er. Ich fuhr zurück und war vielleicht fünfundzwanzig Kilometer vor Richmond, als mir Poteat über Funk mitteilen ließ, was dort unten geschehen war. Ich raste wie ein Blöder zurück und sah auf einmal Ihren Schlitten vor mir. Ich blieb nur deshalb die ganze Zeit hinter Ihnen, um sicherzugehen, dass Sie sich nicht verfahren würden.«
    »Sie haben also tatsächlich heute Abend in dem Lokal mit Harper gesprochen?«, fragte ich erstaunt.
    »Sicher«, bestätigte er. »Ein paar Minuten bevor er abgemurkst wurde.« Marino war aufgekratzt und zappelig und wollte zu seinem Auto gehen. »Ich fahre zu Poteat und sehe zu, was ich noch aus ihm herausbekomme. Morgen früh schaue ich bei Ihnen vorbei, wenn’s Ihnen recht ist.«
    Ich sah zu, wie er wegging und sich den Schnee aus den Haaren schüttelte. Als ich in meinem Plymouth saß und den Zündschlüssel herumdrehte, war er schon fort. Die Scheibenwischer schoben eine dünne Schneeschicht vor sich her und blieben auf einmal mitten auf der Windschutzscheibe stehen. Der Motor meines Dienstwagens machte noch einen kläglichen Versuch anzuspringen, bevor er zur zweiten Leiche dieses Abends wurde.
     
    Die Harper’sche Bibliothek war ein warmer, gemütlicher Raum mit roten Perserteppichen und antiken Möbeln aus feinstenHölzern. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Sofa echtes Chippendale war. Ich hatte noch nie echtes Chippendale gesehen, geschweige denn darauf gesessen. Die hohe Decke war reich mit Stuck verziert, und in den Regalen an den Wänden standen unzählige Bücher, die meisten von ihnen ledergebunden. Ich saß vor einem Kamin aus Marmor, in

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