Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
Vom Netzwerk:
wurde«, fuhr sie in einem beunruhigend monotonen Singsang fort. »Danach war er leergepumpt und lebte in stiller Verzweiflung. Alles, was er später schrieb, waren literarische Fehlgeburten. Kaum hatte er damit angefangen, warf er sie schon wieder ins Feuer und beobachtete verbittert, wie die Seiten verbrannten. Dann lief er wie ein wild gewordener Stier durchs Haus, bis er es irgendwann erneut versuchte. Das ging nun schon so lange so, dass ich aufgehört habe, die Jahre zu zählen.«
    »Sie gehen mit Ihrem Bruder aber sehr hart ins Gericht«, bemerkte ich ruhig.
    »Ich gehe auch mit mir selbst sehr hart ins Gericht, Dr. Scarpetta«, erwiderte sie und blickte mich an. »Cary und ich sind aus demselben holz geschnitzt. Der unterschied zwischen uns besteht darin, dass ich nicht ständig an etwas herumanalysiere, das ohnehin nicht zu ändern ist. Er musste ständig in seiner Vergangenheit und seinem Charakter herumwühlen, um herauszufinden, was ihn geformt hat. Deshalb hat er auch den Pulitzerpreis gewonnen. Ich für meinen Teil habe beschlossen, nicht gegen das anzukämpfen, was immer schon klar war.«
    »Und was ist das?«
    »Die Familie Harper ist am Ende. Wir sind degeneriert und unfruchtbar. Mit uns beiden stirbt die Linie aus«, antwortete sie.
    Der Wein war billiger Burgunder aus Kalifornien, trocken, aber mit einem metallischen Nachgeschmack. Wie lange würde die Polizei denn noch brauchen? Ich glaubte, dass ich vor einiger Zeit schon einen Dieselmotor gehört hatte. Vermutlich war es der Abschleppwagen gewesen, der mein Auto abgeholt hatte.
    »Dass ich mich mein Leben lang um meinen Bruder kümmern musste und damit unserer Familie das Aussterben leichter machte, habe ich als mein Schicksal akzeptiert«, bemerkte Miss Harper. »Aber ich werde Cary nur deshalb vermissen, weil er mein Bruder war. Ich werde nicht hier sitzen und sagen, wie wundervoll er war, denn das wäre eine Lüge. Sie denken jetzt sicher, dass ich eiskalt bin.«
    Kalt war nicht das richtige Wort dafür. »Ich schätze Ihre Ehrlichkeit«, erwiderte ich.
    »Cary hatte Phantasie und leidenschaftliche Gefühle. Ich habe nur sehr wenig von beidem, denn wenn es nicht so wäre, dann hätte ich das alles nicht geschafft. Ich hätte dann bestimmt nicht hier gelebt.«
    »Ich könnte mir vorstellen, dass man hier sehr einsam lebt.« Ich glaubte, dass Miss Harper das gemeint hatte.
    »Die Einsamkeit macht mir nichts aus«, entgegnete sie.
    »Was ist es dann, Miss Harper?«, fragte ich und griff nach meinen Zigaretten.
    »Möchten Sie noch ein Glas Wein?«, fragte sie. Eine Seite ihres Gesichts lag im Schatten des Feuers.
    »Nein, vielen Dank.«
    »Ich wünschte, wir wären nie hierhergezogen. In diesem Haus geschieht nichts Gutes«, sagte sie.
    »Was werden Sie jetzt machen, Miss Harper?« Die Leere in ihren Augen ließ mich frösteln. »Werden Sie hierbleiben?«
    »Ich habe nichts, wo ich sonst hingehen könnte, Dr. Scarpetta.«
    »Ich könnte mir vorstellen, dass sich Cutler Grove nicht allzuschwer verkaufen ließe«, antwortete ich. Meine Aufmerksamkeit wurde wieder von dem Porträt über dem Kamin gefesselt. Das Lächeln des jungen, weißgekleideten Mädchens hatte im Schein des Feuers etwas unheimliches an sich, als berge es Geheimnisse, die es niemals verraten würde.
    »Es ist schwer, seine eiserne Lunge zu verlassen, Dr. Scarpetta.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich bin zu alt, um mich noch einmal zu verändern«, erklärte sie. »Ich bin zu alt, um Glück, Gesundheit und neue Beziehungen zu suchen. Mich beseelt die Vergangenheit. In ihr lebe ich. Sie sind noch jung, Dr. Scarpetta. Irgendwann einmal werden Sie begreifen, was es bedeutet, nach rückwärts zu schauen. Sie werden merken, dass es daraus kein Entkommen gibt. Und Sie werden erkennen, dass Ihre Vergangenheit Sie immer wieder in dieselben, altbekannten Räume zurückholt. Räume, in denen ironischerweise genau die Dinge vorgefallen sind, die Ihre Entfremdung vom Leben erst verursacht haben. Und so findet man die harten Bänke des Kummers mit der Zeit immer bequemer und die Menschen, die einen verraten haben, immer freundlicher. Sie werden sehen, man wirft sich demselben Schmerz in die Arme, vor dem man früher weggelaufen ist. Es ist einfacher. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist einfacher.«
    »Können Sie sich vorstellen, wer Ihrem Bruder das angetan hat?« Ich fragte sie so direkt, weil ich unbedingt das Thema wechseln wollte.
    Sie erwiderte nichts, sondern starrte mit

Weitere Kostenlose Bücher