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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Verleger einen Brief von ihr, dem eine handgeschriebene Kurzgeschichte beigelegt war. Ich kann mich noch gut daran erinnern. Beryl war vielversprechend, eine im Keim vorhandene Begabung, die nur noch richtig gefördert werden musste. Also kam es zu einem Briefwechsel, und ein paar Monate später lud Cary sie ein, uns zu besuchen. Er schickte ihr sogar ein Flugticket. Bald darauf kaufte er dieses Haus und fing an, es zu restaurieren. Er hat viel für Beryl getan. Dieses hübsche junge Mädchen hat seine Welt verzaubert.«
    »Und Sie?«, fragte ich.
    Zunächst antwortete sie nicht. Im Kamin fielen ein paar Scheite zusammen und ließen Funken aufprasseln.
    »Nachdem wir hier eingezogen waren, verlief unser leben nicht ohne Komplikationen«, erwiderte sie schließlich. »Ich musste mit ansehen, was zwischen den beiden vorging.«
    »Zwischen Ihrem Bruder und Beryl.«
    »Ich wollte nicht, dass er sie so einsperrte«, meinte sie. »Nur weil Cary unaufhörlich versuchte, Beryl an sich zu binden und sie für sich allein zu haben, hat er sie verloren.«
    »Sie müssen Beryl sehr geliebt haben«, vermutete ich.
    »Es ist unmöglich, das jemandem zu erklären«, gestand sie, und ihre Stimme überschlug sich dabei. »Es war sehr schwierig, mit der ganzen Situation fertigzuwerden.«
    Ich sondierte weiter: »Wollte Ihr Bruder nicht, dass Sie mit ihr engeren Kontakt pflegten?«
    »Ganz besonders nicht während der letzten paar Monate, seit sie dieses Buch schrieb. Cary wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihr Name durfte in diesem Haus nicht mehr genannt werden. Er verbot mir ausdrücklich jeden Kontakt mit ihr.«
    »Aber Sie erhielten ihn trotzdem aufrecht«, sagte ich.
    »In einem sehr beschränkten Umfang«, antwortete sie mühsam.
    »Es muss Ihnen sehr weh getan haben, von jemandem abgeschnitten zu sein, den Sie so sehr geliebt haben.«
    Sie schaute wieder in die Flammen und fort von mir. »Miss Harper, wann haben Sie von Beryls Tod erfahren?« Sie antwortete nicht.
    »Hat irgendwer Sie angerufen?«
    »Ich erfuhr es am Morgen danach aus dem Radio«, murmelte sie.
    Großer Gott, dachte ich. Wie schrecklich!
    Sie sagte nichts mehr. So gern ich ihr auch ein paar Worte des Trosts gespendet hätte, konnte ich ihr in ihrem Schmerz nicht beistehen. Also saßen wir schweigend da, sehr lange, wie mir schien. Als ich schließlich verstohlen auf die Uhr blickte, war es fast Mitternacht.
    Das Haus war sehr still. Zu still, dachte ich und erschrak. In der Eingangshalle war es, nach der Wärme in der Bibliothek, eisig kalt wie in einer Kathedrale. Ich öffnete die Hintertür und musste vor lauter Schrecken nach Luft ringen. Die Auffahrt lag im milchigen Schneegestöber unter einer geschlossenen, weißen Decke, auf der sich nur noch schwach die Reifenspuren der verdammten Cops, die weggefahren waren, ohne mich mitzunehmen, erahnen ließen. Verdammt. Verdammt. Verdammt.
    Als ich wieder in die Bibliothek zurückkam, legte Miss Harper eben ein neues Scheit aufs Feuer.
    »Es scheint so, als ob mein Auto ohne mich weggefahren wäre«, sagte ich und wusste, dass ich verärgert klang. »Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?«
    »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein«, antwortete sie gleichmütig. »Die Telefonleitung ist, kurz nachdem der Polizist gegangen ist, zusammengebrochen. Das passiert hier relativ häufig, wenn das Wetter schlecht ist.«
    Ich sah zu, wie sie zwischen den brennenden Scheiten herumstocherte.Dünne Rauchfahnen stiegen auf, und Funken schwärmten den Kamin hinauf.
    Auf einmal kam mir etwas in den Sinn, was ich ganz vergessen hatte.
    »Ihre Freundin ...«, begann ich.
    Sie rüttelte wieder an den Scheiten.
    »Von der Polizei hörte ich, dass eine Freundin auf dem Weg zu Ihnen sei, die heute Nacht bei Ihnen bleiben wollte.«
    Miss Harper stand langsam auf und drehte sich um. Ihr Gesicht war rot von der Hitze.
    »Ja, Dr. Scarpetta«, sagte sie. »Wie nett von Ihnen, dass Sie gekommen sind.«

8
    Die hohe Standuhr im Gang schlug gerade zwölf, als Miss Harper mit einer neuen Flasche Wein zurückkam. »Die Uhr geht schon seit Ewigkeiten zehn Minuten nach«, fühlte sie sich anscheinend genötigt zu sagen.
    Ich hatte die Telefone des Hauses überprüft, sie waren wirklich tot. Um zu Fuß zur nächsten Stadt zu gelangen, hätte ich einige Kilometer durch mittlerweile schon über zehn Zentimeter hohen Schnee laufen müssen. Also blieb ich hier.
    Ihr Bruder und Beryl waren tot. Miss Harper war die Einzige, die noch übrig war,

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