Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
weitgeöffneten Augen ins Feuer.
»Was wissen Sie über Beryl?«, bohrte ich weiter.
»Ich weiß nur, dass sie Monate bevor es passiert ist, schon bedroht wurde.«
»Monate vor ihrem Tod?«, fragte ich.
»Ja. Sie bekam Drohungen«, bestätigte sie.
»Hat sie Ihnen erzählt , dass sie Drohungen erhielt, Miss Harper?«
»Ja, natürlich«, sagte sie.
Marino hatte Beryls Telefonrechnungen durchgesehen. Er hatte keine Belege für Ferngespräche nach Williamsburg gefunden und auch keine Briefe, die Beryl von Miss Harper oder ihrem Bruder erhalten hätte.
»Dann standen Sie all die Jahre in Kontakt mit ihr?«, fragte ich.
»In sehr engem Kontakt«, antwortete sie. »Soweit es möglich war, sollte ich besser sagen, nachdem sie angefangen hatte, dieses Buch zu schreiben, das ja einen klaren Bruch ihres Übereinkommens mit meinem Bruder bedeutete. Das alles hat sich zu einer ziemlich hässlichen Angelegenheit entwickelt. Cary war außer sich vor Zorn.«
»Woher wusste er überhaupt, was sie tat? Hat sie ihm gesagt, dass sie dieses Buch schrieb?«
»Ihr Anwalt hat es ihm mitgeteilt«, erwiderte sie.
»Sparacino?«
»Ich weiß nicht, was er Cary im Einzelnen erzählt hat«, sagte sie mit hartem Gesicht, »aber mein Bruder wusste von Beryls Buch. Er wusste genug davon, um sich fürchterlich aufzuregen. Der Anwalt heizte die Geschichte hintenrum sogar noch an. Er lief von Beryl zu Cary und wieder zurück und gab jedem der beiden das Gefühl, dass er auf seiner Seite stünde, je nachdem, mit wem er gerade sprach.«
»Wissen Sie, was aus dem Buch geworden ist?«, fragte ich vorsichtig. »Hat es vielleicht Sparacino? Ist er dabei, es zu veröffentlichen?«
»Vor ein paar Tagen rief er Cary an. Ich hörte ein paar Fetzen dieses Gesprächs. Anscheinend ist das Manuskript verschwunden. Ihre Dienststelle wurde auch erwähnt. Ich hörte, wie Cary etwas über den Chief Medical Examiner sagte. Damit hat er vermutlich Sie gemeint. Und er wurde wütend. Ich schloss daraus, dass Mr. Sparacino hatte herausfinden wollen, ob mein Bruder vielleicht das Manuskript besaß.«
»Wäre das möglich?«, wollte ich wissen.
»Beryl hätte es Cary niemals gegeben«, antwortete sie mit Leidenschaft. »Es hätte überhaupt keinen Sinn ergeben, wenn sie ihm ihre Arbeit überlassen hätte. Er war ja so unnachgiebig in dieser Hinsicht.«
Einen Augenblick lang waren wir still.
Dann fragte ich: »Miss Harper, wovor hatte Ihr Bruder solche Angst?«
»Vor dem Leben.«
Ich wartete und sah sie genau an. Sie starrte wieder ins Feuer.
»Je mehr Angst er davor hatte, desto mehr zog er sich zurück«, bemerkte sie in einem sonderbaren Tonfall. »Wenn man sich so abkapselt, dann passieren seltsame Dinge im Kopf. Das Innerste wird nach außen gekehrt, und Ideen und Gedanken drehen sich so lange um sich selbst, bis sie merkwürdig hin und her schwanken und schließlich eine bizarre Richtung einschlagen. Ich glaube, dass Beryl die einzige Person war, die mein Bruder jemals geliebt hat. Er wollte sie festhalten, hatte ein überwältigendes Bedürfnis, sie zu besitzen und an sich zu ketten. Als er sich von ihr verraten fühlte und merkte, dass er keine Macht mehr über sie besaß, wurde sein Wahn noch viel schlimmer. Ich bin mir sicher, dass er sich ausmalte, dass sie die haarsträubendsten Dinge über ihn und unser Leben hier verbreiten würde.«
Ihre Hand zitterte, als sie wieder nach ihrem Weinglas griff. Sie redete über ihren Bruder, als ob er schon seit Jahren tot wäre. Wenn sie von ihm sprach, bekam ihre Stimme einen schneidenden Ton, und es schien mir so, als hätte sie die tiefe Liebe zu ihrem Bruder hinter Mauern aus Zorn und Schmerz vergraben.
»Cary und ich hatten niemanden, bevor Beryl auftauchte«, fuhr sie fort. »Unsere Eltern waren gestorben, und wir hatten nur noch uns beide. Und Cary war so schwierig. Ein Teufel, der wie ein Engel schreiben konnte. Er brauchte jemanden, der sich um ihn kümmerte. Also nahm ich es auf mich, ihn in seinen Bestrebungen, sich in dieser Welt ein Denkmal zu setzen, zu unterstützen.«
»Solche Opfer ziehen oft Groll nach sich«, wagte ich zu bemerken.
Sie schwieg. Das licht des Feuers flackerte auf ihrem feingeschnittenen Gesicht.
»Wie haben Sie Beryl gefunden?«, erkundigte ich mich.
»Sie hat uns gefunden. Sie wohnte damals in Fresno bei ihrem Vater und ihrer Stiefmutter und schrieb wie eine Besessene.«
Miss Harper hörte nicht auf, ins Feuer zu starren. »Eines Tages erhielt Cary über seinen
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