Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
dem gerade frisch nachgelegte Scheite knisterten. Ich lehnte mich vor, wärmte meine Hände an den Flammen und betrachtete das Ölgemälde über dem Kaminsims. Es war das Porträt eines wunderschönen jungen Mädchens in einem weißen Kleid. Es saß auf einer kleinen Bank. Seine Haare waren lang und sehr blond, und seine Hände spielten graziös um eine silberne Haarbürste auf seinem Schoß. Seine Augen unter den schweren Lidern und die halbgeöffneten, vollen Lippen flimmerten in der aufsteigenden Hitze des Feuers. Das tiefausgeschnittene Dekolleté des Kleides zeigte porzellanweiße, noch nicht vollständig entwickelte Brüste. In dem Augenblick, als ich mich fragte, warum gerade dieses Porträt einen solchen Ehrenplatz einnahm, trat Cary Harpers Schwester ein und schloss die Tür ebenso leise, wie sie sie geöffnet hatte.
»Das wird Sie aufwärmen«, sagte sie und gab mir ein Glas Wein.
Sie stellte das Tablett auf den Couchtisch und setzte sich auf einen barocken Sessel mit roten Samtkissen. Sie überschlug ihre Beine nach einer Seite, wie es wohlerzogene Damen von ihren Müttern und Tanten gelernt haben.
»Vielen Dank«, sagte ich. Es klang entschuldigend.
Die Batterie meines Dienstwagens war so mausetot, dass ihr auch ein Starthilfekabel nicht mehr helfen konnte. Die Cops hatten über Funk einen Abschleppwagen gerufen und versprochen, mich mit nach Richmond zu nehmen, wenn sie mit der Spurensicherung fertig waren. Ich hatte keine Wahl. Ich wollte nicht draußen im Schnee herumstehen oder eine Stunde lang im Streifenwagen sitzen. Also klopfte ich an Miss Harpers Tür.
Sie trank ihren Wein und starrte mit leerem Blick ins Feuer. Sie war eine der elegantesten Frauen, die ich je gesehen hatte, feinund edel wie die teuren Gegenstände, die sie umgaben. Silberweißes Haar umrahmte ihr aristokratisches Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den kultivierten Zügen. Sie trug einen beigen Kapuzenpullover und einen Cordrock, die ihre geschmeidige, wohlproportionierte Figur erahnen ließen. Sterling Harper sah überhaupt nicht wie eine alte Jungfer aus.
Sie schwieg. Schneeflocken legten sich kalt an die Fensterscheiben, und der Wind seufzte um die Giebel. Ich konnte mir nicht vorstellen, allein in diesem Haus leben zu müssen.
»Haben Sie sonst noch jemanden in der Familie?«, fragte ich. »Niemanden, der noch am Leben ist«, antwortete sie.
»Das tut mir leid, Miss Harper ...«
»Bitte, Sie dürfen das nicht immer wieder sagen, Dr. Scarpetta.«
Als sie ihr Glas wieder an den Mund hob, funkelte ein Ring mit einem großen Smaragd im Feuerschein. Sie blickte mich an. Ich dachte an die Angst, die ich in ihren Augen gesehen hatte, als sie in der Tür gestanden war und ich gerade ihren toten Bruder untersucht hatte. Jetzt wirkte sie bemerkenswert gefasst.
»Cary hätte vorsichtiger sein sollen«, bemerkte sie plötzlich. »Ich glaube, am meisten hat mich erschreckt, wie es passiert ist. Ich hätte nie gedacht, dass jemand es wagen würde, ihm hier am Haus aufzulauern.«
»Und Sie haben wirklich nichts gehört?«, fragte ich.
»Ich hörte, wie er mit dem Wagen ankam. Danach hörte ich nichts mehr. Als er dann nicht ins Haus kam, ging ich zur Tür und schaute nach. Dann rief ich sofort die Polizei.«
»Ging er auch manchmal woandershin, außer zu Culpeper’s Tavern?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Er war jeden Abend bei Culpeper’s.« Ihr Blick schweifte von mir ab. »Ich habe ihn davor gewarnt, dort hinzufahren, bei all den Gefahren, die heutzutage überall lauern. Wissen Sie, er trug ständig Bargeld mit sich herum, und außerdem hatte Cary die Gabe, andere Leute zu beleidigen. Er blieb nie lange bei Culpeper’s. Eine Stunde, höchstens mal zwei. Er sagte immer,er brauche diesen Kontakt mit den einfachen Leuten zu seiner Inspiration. Nach The Jagged Corner hatte Cary nichts mehr zu sagen.«
Ich hatte das Buch gelesen, als ich an der Cornell University studierte, und hatte nur noch ein paar vage Eindrücke davon. Es zeichnete einen brutalen, rückständigen Süden voller Gewalt, Inzest und Rassismus, so wie ihn ein junger Schriftsteller sieht, der auf einer Farm in Virginia aufgewachsen ist. Ich erinnerte mich daran, dass es mich deprimiert hatte.
»Das Talent meines Bruders reichte unglücklicherweise nur für ein einziges Buch.«
»Das war bei vielen hervorragenden Schriftstellern der Fall«, sagte ich.
»Das einzige Leben, das er wirklich gelebt hat, war das, zu dem er als junger Mann gezwungen
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