Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
was hoffentlich nichts zu bedeuten hatte. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen Schluck von dem Wein. Miss Harper verfügte nicht über die Körperkraft, die notwendig gewesen wäre, um ihren Bruder und Beryl umzubringen. Was aber, wenn der Mörder es jetzt auf Miss Harper abgesehen hatte? Was, wenn er zurückkam?
Meine .38er lag bei mir zu Hause.
Die Polizei wollte die Gegend überwachen.
Aber womit denn? Mit Schneemobilen?
Ich bemerkte, dass Miss Harper mit mir sprach.
»Pardon?«, fragte ich und zwang mich zu lächeln.
»Sie sehen aus, als würden Sie frieren«, wiederholte sie.
Mit seelenruhigem Gesicht setzte sie sich auf den Barocksessel und schaute wieder ins Feuer. Die prasselnden Flammen knatterten wie eine Flagge im Wind, und ab und zu blies ein Luftzug ein wenig Asche aus dem Kamin. Dass ich hiergeblieben war, schien ihr wieder etwas Sicherheit zurückgegeben zu haben. Ich an ihrer Stelle wäre auch nicht gern allein geblieben.
»Ich bin okay«, log ich. Es war wirklich kalt.
»Ich hole Ihnen gern eine Wolljacke.«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich finde es wirklich recht angenehm so.«
»Es ist unmöglich, dieses Haus richtig zu beheizen«, fuhr sie fort. »Bei den hohen Decken. Und nichts ist isoliert. Aber man gewöhnt sich daran.«
Ich dachte an mein modernes, gasgeheiztes Haus in Richmond. Ich dachte an mein riesiges Bett mit seiner festen Matratze und seiner elektrisch beheizbaren Decke. Ich dachte an die Stange Zigaretten im Küchenschrank neben dem Kühlschrank und den guten Scotch in meiner Bar. Und ich dachte an den zugigen, staubigen und dunklen ersten Stock hier in Cutler Grove.
»Ich könnte ja auf dem Sofa schlafen«, schlug ich vor.
»Unsinn. Das Feuer wird bald ausgehen.« Sie spielte nervös mit einem Knopf an ihrer Jacke, ihre Augen blickten immer noch in die Flammen.
»Miss Harper«, versuchte ich es ein letztes Mal. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer die Morde an Beryl und Ihrem Bruder begangen haben könnte? Und warum?«
»Sie glauben, dass es derselbe Mann ist.« Sie äußerte diesen Satz als Feststellung, nicht als Frage.
»Das muss ich in Betracht ziehen.«
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen, was Ihnen weiterhilft«, antwortete sie. »Aber vielleicht ist es auch egal. Wer auch immer es getan hat, man kann es nicht wieder ungeschehen machen.«
»Wollen Sie denn gar nicht, dass der Mörder für seine tat bestraft wird?«
»Es gibt schon genug Strafe auf der Welt. Strafe kann einem auch niemanden zurückgeben«, sagte sie.
»Meinen Sie nicht, dass Beryl gewollt hätte, dass er gefasst wird?«
Sie drehte sich zu mir um und erwiderte mit weit offenen Augen: »Ich wünschte, Sie hätten sie gekannt.«
»Ich glaube, dass ich sie in gewisser Weise doch kenne«, bemerkte ich sanft.
»Ich kann es Ihnen nicht erklären ...«
»Das müssen Sie auch nicht, Miss Harper.«
»Es hätte alles so schön sein können ...«
Ich sah, wie der Schmerz ihr Gesicht, das sofort danach wieder kontrolliert war, einen Augenblick lang verzerrte. Sie musste den Gedanken nicht zu Ende führen. Es hätte so schön sein können, jetzt, wo niemand mehr Beryl und Miss Harper voneinander trennte. Als Gefährtinnen. Freundinnen. Das Leben ist so leer, wenn man allein ist, wenn man niemanden mehr hat, den man lieben kann.
»Es tut mir leid«, sagte ich mitfühlend. »Es tut mir so schrecklich leid, Miss Harper.«
»Wir haben erst Mitte November«, antwortete sie und schaute wieder weg von mir. »Das ist ungewöhnlich früh für Schnee. Er wird nicht lange liegen bleiben, Dr. Scarpetta. Sie werden am Vormittag sicher hier wegfahren können. Die Leute, die Sie gestern vergessen haben, werden sich bis dahin bestimmt an Sie erinnern. Es war wirklich lieb von Ihnen, dass Sie hereingeschaut haben.«
Irgendwie schien sie gewusst zu haben, dass ich zu ihr kommen würde. Ich hatte das unheimliche Gefühl, dass sie es vielleicht auf irgendeine Weise geplant hatte. Aber natürlich war das völlig ausgeschlossen.
»Ich möchte Sie nur um eines bitten«, sagte sie.
»Und was ist das, Miss Harper?«
»Kommen Sie im Frühjahr wieder. Kommen Sie vorbei, wenn wir April haben«, sprach sie zu den Flammen.
»Das würde ich gern tun«, antwortete ich.
»Wenn die Vergissmeinnicht blühen. Der Rasen schimmert dann ganz blau von ihnen. Es ist herrlich, für mich die schönste Zeit im Jahr. Beryl und ich haben sie oft gemeinsam gepflückt. Haben Sie sie mal aus der Nähe betrachtet?
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