Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Einschlafen war nicht mehr zu denken. Weil ich in meinem geliehenen Nachthemd fror, zog ich meinen Mantel an, bevor ich den Riegel zurückschob und mich den stockdunklen Gang entlangtastete, bis ich in den Schatten die geschwungene Silhouette des Treppengeländers erahnen konnte.
Die Eingangshalle war eiskalt und vom Mondlicht, das durch zwei kleine Fenster beiderseits der Vordertür hereinfiel, schwach beleuchtet. Es hatte aufgehört zu schneien, und zwischen den Zweigen der Bäume und Sträucher, die ihre Formen unter einem weißen Überzug versteckten, konnte ich die Sterne sehen. Der Gedanke an ein warm knisterndes Feuer zog mich in die Bibliothek.
Miss Harper saß in eine Wolldecke gehüllt auf dem Sofa. Sie starrte in die Flammen, und ihre Augen waren nass von Tränen, die abzuwischen sie sich nicht die Mühe gemacht hatte. Ich räusperte mich und rief leise ihren Namen. Ich wollte sie nicht erschrecken.
Sie bewegte sich nicht.
»Miss Harper?«, sagte ich noch einmal, dieses Mal lauter. »Ich hörte, wie Sie nach unten gingen ...«
Sie saß an der geschwungenen Rückenlehne des Sofas, ihre Augen starr auf das Feuer gerichtet. Als ich mich schnell neben ihr niederließ, um am Hals ihren Puls zu fühlen, fiel ihr Kopf schlaff zur Seite. Sie war noch sehr warm, hatte aber keinen Puls mehr. Ich zog sie auf den Teppich und machte wie eine Verrückte abwechselnd Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage. Wie lange ich das tat, weiß ich nicht mehr. Als ich dann schließlich aufgab, waren meine Lippen taub, und meine Arm- und Rückenmuskulatur schmerzte. Ich zitterte am ganzen Körper.
Das Telefon funktionierte noch immer nicht. Ich konnte niemanden anrufen, konnte überhaupt nichts tun. So stand ich am Fenster der Bibliothek und schaute zwischen den halbgeöffneten Vorhängen mit Tränen in den Augen hinaus auf das unglaubliche, vom Mondlicht überglitzerte Weiß, hinter dem der schwarzeFluss so breit dahinfloss, dass ich das andere Ufer nicht erkennen konnte. Irgendwie schaffte ich es, Miss Harpers Leiche wieder auf das Sofa zu setzen. Ich deckte sie vorsichtig mit der Wolldecke zu, während das Feuer herunterbrannte und das Mädchen auf dem Porträt in den Schatten verschwand. Sterling Harpers völlig unerwarteter Tod erschütterte mich schwer. Ich hockte auf dem Teppich vor dem Sofa und sah zu, wie das Feuer langsam erlosch. Nicht einmal das konnte ich am Leben erhalten, aber ich versuchte es auch nicht.
Als mein Vater starb, hatte ich nicht geweint. Er war viele Jahre krank gewesen, und ich hatte gelernt, meine Gefühle abzutöten. Fast meine ganze Kindheit über war er ans Bett gefesselt. Als er schließlich eines Abends zu Hause starb, floh ich vor dem schrecklichen Schmerz meiner Mutter in eine erzwungene Gleichgültigkeit, und von dieser scheinbar sicheren Warte aus perfektionierte ich die Kunst, dem Untergang interessiert zuzusehen.
Mit einer scheinbar durch nichts zu beeindruckenden Reserviertheit war ich Zeugin des chaotischen Kampfes zwischen meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester Dorothy, die sich schon vom Tag ihrer Geburt an nur egozentrisch und verantwortungslos benommen hatte.
Ich stahl mich immer häufiger von dem Gebrüll und Gestreite davon, aber in Wahrheit rannte ich dabei um mein Leben. Ich wurde zur Deserteurin aus diesem häuslichen Kleinkrieg und verbrachte nach der Schule immer längere Zeit bei den Klosterschwestern und verkroch mich in die Bibliothek, wo mir langsam klarwurde, dass ich mit meiner frühentwickelten Intelligenz durchaus etwas erreichen konnte. Ich war eine exzellente Schülerin in den Naturwissenschaften, und der menschliche Körper faszinierte mich ganz besonders. Schon im Alter von fünfzehn Jahren verschlang ich Gray’s Anatomy , und dieses Buch wurde der ständige Begleiter meiner autodidaktischen Studien, die Bibel meiner persönlichen Offenbarung. In einer Zeit, in der Frauen Lehrerinnen, Sekretärinnen oder Hausfrauen wurden, wollte ich Ärztin werden.
Auf der High School hatte ich nur Einser und spielte viel Tennis. In den Sommerferien las ich ein Buch nach dem anderen, während sich der Rest meiner Familie gegenseitig aufrieb. Sie kamen mir vor wie verwundete Südstaatenveteranen in einer Welt, in der längst der Norden gesiegt hatte. Ich hatte wenig Interesse an Jungen und auch nur wenige Freundinnen. Ich machte den Abschluss als Klassenbeste und ging mit einem Stipendium nach Cornell aufs College. Danach studierte ich Medizin auf der Johns Hopkins
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