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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Oder sind Sie wie die meisten Leute, denen sie so selbstverständlich vorkommen, so klein und unscheinbar, dass sie sie völlig übersehen? Sie sind so schön, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. So wunderschön, als ob sie aus Porzellan und von Gottes eigener Hand bemalt wären. Wir trugen sie immer im Haar und stellten sie im Haus in Schalen auf, Beryl und ich. Sie müssen mir versprechen, dassSie im April wiederkommen. Wollen Sie das tun?« Sie drehte sich wieder zu mir, und die Gefühlsbewegung in ihren Augen tat mir weh.
    »Ja, ja. Natürlich«, antwortete ich und meinte es auch. »Wünschen Sie irgendwas Besonderes zum Frühstück?«, fragte sie und stand auf.
    »Ich schließe mich da Ihnen an.«
    »Ich habe eine Menge im Kühlschrank«, bemerkte sie mit einem seltsamen Unterton. »Nehmen Sie Ihren Wein mit, ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«
    Ihre Hand hielt sich am Geländer fest, während sie mit mir die phantastisch geschnitzte Holztreppe in den ersten Stock hinaufstieg. An der Decke war kein Licht, nur einzelne Lampen beleuchteten unseren Weg, und die muffige Luft war kalt wie in einem Keller.
    »Ich schlafe auf der anderen Seite des Gangs, drei Türen weiter, falls Sie irgendetwas brauchen sollten«, sagte sie und führte mich in ein kleines Gästezimmer.
    Die Möbel waren aus Mahagoni mit Intarsien aus Zitronenholz, und an den blassblau tapezierten Wänden hingen Blumenstillleben und eine Ansicht des Flusses in Öl. Auf dem frisch gemachten Himmelbett lagen dicke Tagesdecken. Ein Durchgang führte in ein gekacheltes Badezimmer. Die Luft war abgestanden und roch nach Staub, als wären sehr lange Zeit die Fenster nicht geöffnet worden. Nur noch Erinnerungen wohnten hier, und ich war mir sicher, dass viele, viele Jahre lang niemand mehr in diesem Zimmer geschlafen hatte.
    »In der obersten Schublade der Kommode liegt ein Nachthemd aus Flanell. Im Bad hängen frische Handtücher und alles Übrige«, sagte Miss Harper. »Brauchen Sie sonst noch irgendetwas?«
    »Nein. Vielen Dank.« Ich lächelte ihr zu. »Gute Nacht.«
    Ich schloss die Tür und legte den winzigen Riegel vor. Das Nachthemd war das einzige Bekleidungsstück in der Kommode, darunter lag noch ein Säckchen mit Lavendel, das längst seinen Duft verloren hatte. Alle anderen Schubladen waren leer. ImBad befanden sich eine in Cellophan verpackte Zahnbürste, eine kleine Tube mit Zahnpasta, ein unbenutztes Stück Lavendelseife und jede Menge Handtücher, wie es Miss Harper versprochen hatte. Das Waschbecken war staubtrocken, und als ich die Hähne aufdrehte, sah das Wasser, das herauskam, aus wie flüssiger Rost. Es dauerte eine Ewigkeit, bis es klar und warm genug floss und ich es wagen konnte, mein Gesicht damit zu waschen.
    Das Nachthemd, das alt, aber sauber war, sah verwaschen aus und blau wie Vergissmeinnicht. Ich stieg ins Bett und zog mir die muffig riechende Tagesdecke bis zum Kinn, bevor ich das Licht ausknipste. Das Kissen wölbte sich unförmig, und als ich es mir in eine bequemere Form drückte und schob, spürte ich die harten Federkiele. Ich war hellwach und fror an der Nase. Ich setzte mich in der Dunkelheit im Bett auf und trank den Rest von meinem Wein. Ich war mir jetzt fast sicher, dass dies einmal Beryls Zimmer gewesen sein musste. Das Haus war so ruhig, dass ich mir einbildete, die alles aufsaugende Stille des vor dem Fenster fallenden Schnees hören zu können.
    Ich war mir nicht bewusst, dass ich eingedöst war, aber als ich die Augenlider aufriss, klopfte mein Herz wie wild, und ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Ich wusste nicht mehr, was für einen Albtraum ich geträumt hatte. Zuerst erinnerte ich mich auch nicht mehr, wo ich war und ob ich wirklich ein Geräusch gehört hatte. Der Wasserhahn im Bad war nicht ganz dicht, und ein Tropfen nach dem anderen klirrte langsam in das Waschbecken. Dann knarrte auf einmal kaum hörbar der Fußboden hinter der verriegelten Tür meines Zimmers.
    Meine Gedanken rasten über eine Hindernisbahn voller möglicher Erklärungen. Bodenbretter zogen sich in der Kälte zusammen. Mäuse. Oder irgendjemand schlich vorsichtig den Gang entlang. Ich hielt den Atem an und hörte, wie Füße in Pantoffeln ganz leise an meiner Tür vorbeigingen. Miss Harper, dachte ich. Es klang so, als stiege sie die Treppe hinunter. Eine Stunde lang, wie mir schien, wälzte ich mich ruhelos von einer Seite auf die andere. Schließlich knipste ich die Lampe an und stand auf. Eswar halb vier Uhr morgens, und an

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