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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Zigarette auf den Fußboden. »Als Nächstes fragte ich ihn, wo er in der Nacht gewesen sei, in der Beryl ermordet wurde. Er antwortete, dass er zu seiner üblichen Zeit in der Kneipe gewesen und danach heimgefahren sei. Als ich ihn fragte, ob seine Schwester das bestätigen könne, sagte er, sie sei gar nicht zu Hause gewesen.«
    Mit erhobenem Skalpell in der Hand sah ich ihn erstaunt an. »Wo war sie denn?«
    »Verreist.«
    »Hat er Ihnen nicht verraten, wohin?«
    »Nein. Er sagte, ich zitiere wörtlich: ›Das ist ihre Angelegenheit. Fragen Sie nicht mich.‹« Marino blickte angewidert auf die Leber, die ich gerade in Scheiben schnitt. Er fügte hinzu: »Leber mit Zwiebeln war mal mein Leibgericht. Können Sie sich das vorstellen? Ich kenne keinen einzigen Polizisten, der noch Leber isst, nachdem er einmal bei einer Autopsie dabei war.«
    Ich begann Harpers Schädel zu öffnen, so dass das Schrillen der Strykersäge Marinos Worte übertönte. Er hörte auf zu reden und trat zurück, weil Knochenstaub zusammen mit einem beißenden Geruch aufstieg. Sogar Leichen, die in einem guten Zustand sind, riechen schlecht, wenn man sie öffnet. Und der Anblick ist auch nicht gerade etwas für schwache Nerven. Eines musste ich Marino zugute halten. Ganz egal, wie grausig ein Fall auch war, er kam immer zur Obduktion.
    Harpers Gehirn war weich und wies eine Menge ausgefranster Risse auf. Ich sah nur wenige innere Blutungen, ein weiterer Beweis dafür, dass er diese Verletzung nicht mehr lange überlebt hatte. Wenigstens war er einen schnellen, gnädigen Tod gestorben. Anders als Beryl hatte Harper keine Zeit gehabt, Schrecken oder Schmerz zu spüren oder um sein Leben zu betteln. Auch in einigen anderen Punkten unterschied sich der Mord an ihm von dem an Beryl. So fehlte beispielsweise der sexuelle Aspekt. Außerdem war er erschlagen und nicht erstochen worden, und bei ihm vermissten wir kein Kleidungsstück.
    »Ich habe hundertachtundsechzig Dollar in seiner Brieftaschegefunden«, teilte ich Marino mit. »Und seine Armbanduhr und sein Siegelring sind vorhanden und registriert.«
    »Was ist mit seiner Halskette?«, fragte er.
    Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
    »Er trug eine dicke Goldkette mit einem Amulett in der Form eines Wappenschilds«, erklärte er. »Ich sah sie in der Kneipe.«
    »Sie war nicht bei seiner Leiche, als sie eingeliefert wurde, und ich kann mich auch nicht daran erinnern, sie am Tatort gesehen zu haben ...« Fast hätte ich »gestern Abend am Tatort« gesagt. Aber es war nicht gestern Abend gewesen. Harper war in der Nacht zum Montag gestorben. Heute hatten wir Dienstag. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Die letzten zwei Tage erschienen mir unwirklich, und hätte ich nicht heute Morgen Marks Nachricht noch einmal abgehört, hätte ich nicht mit Sicherheit sagen können, ob er mich wirklich angerufen hatte.
    »Vielleicht hat der Irre sie gestohlen, um auch von Harper ein Andenken zu haben«, schlug Marino vor.
    »Das ergibt keinen Sinn«, antwortete ich. »In Beryls Fall kann ich ja verstehen, dass der Mörder ein Souvenir mitnahm, wenn es die Tat eines Geistesgestörten war, der von irgendeiner Zwangsvorstellung in Verbindung mit ihr verfolgt wurde. Aber warum sollte er etwas von Harper mitnehmen?«
    »Vielleicht als Trophäe«, schlug Marino vor. »Quasi wie das Fell eines erlegten Tieres. Vielleicht ist er ein bezahlter Killer, der gern ein kleines Andenken an seine Jobs einsteckt.«
    »Also, ich glaube, ein bezahlter Killer dürfte dafür wohl zu vorsichtig sein«, konterte ich.
    »Glauben Sie. Genauso, wie Sie glauben, dass Jeb Price zu vorsichtig hätte sein müssen, um eine Filmschachtel im Kühlraum liegenzulassen«, entgegnete er voller Sarkasmus. Ich streifte die Handschuhe ab und beschriftete die Reagenzgläser und die anderen Proben, die ich entnommen hatte. Ich suchte meine Notizen zusammen, und Marino folgte mir hinauf in mein Büro.
    Rose hatte die Nachmittagszeitung auf meine Schreibtischunterlage gelegt. Der Mord an Harper und der Tod seiner Schwesterwaren das Thema der Schlagzeile auf der ersten Seite. Was mir den Tag vermieste, las ich in einer Spalte daneben.
     
    CHIEF MEDICAL EXAMINER
    SOLL UMSTRITTENES MANUSKRIPT
    »VERLOREN« HABEN
     
    Darunter stand »New York« und das Datum. Es handelte sich um eine Meldung der Associated Press, die damit begann, dass ich einen Mann namens Jeb Price »kampfunfähig« geschlagen habe, als dieser gestern Nachmittag mein Büro

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