Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Nachdem er eine halbe Seite gefüllt hatte, wobei eine Spalte sehr viel länger war als die andere, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und runzelte die Stirn. »Kay«, sagte er, »ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass Sie sich in Ihre Fälle sehr viel mehr hineinhängen als Ihre Vorgänger?«
»Ich habe keinen meiner Vorgänger gekannt«, antwortete ich.
Er lächelte ein wenig. »Das ist keine Antwort auf meine Frage, Frau Rechtsanwältin.«
»Ganz ehrlich, ich habe noch nie darüber nachgedacht«, erwiderte ich.
»Das hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet«, überraschte er mich. »Und zwar deshalb, weil Sie vollkommen auf Ihre Arbeit konzentriert sind, Kay. Und das war einer von mehreren Gründen, warum ich Ihre Ernennung unterstützt habe. Das Gute daran ist, dass Ihnen nie etwas entgeht, denn Sie sind eine wirklich tüchtige Gerichtsmedizinerin und erledigen zudem noch den ganzen Verwaltungskram recht ordentlich. Das Schlechte daran ist, dass Sie sich gelegentlich in Gefahr bringen. Nehmen wir zum Beispiel den Fall dieses Würgers vor einem Jahr. Wenn Sie nicht gewesen wären, wären die Morde vielleicht nie aufgeklärt worden, und noch mehr Frauen hätten sterben müssen. Aber dieser Fall hätte Sie beinahe das Leben gekostet.«
»Und nun dieser Vorfall von gestern.« Nach einer kurzen Pause schüttelte er den Kopf und lachte. »Obwohl, ich muss sagen, dass ich ziemlich beeindruckt bin. Sie haben ihn niedergestreckt, glaube ich, jedenfalls habe ich das heute Morgen im Radio gehört. Haben Sie wirklich?«
»Nicht ganz«, antwortete ich unbehaglich.
»Wissen Sie, wer er ist und wonach er gesucht hat?«
»Wir sind uns nicht sicher«, antwortete ich. »Aber er war im Kühlraum der Leichenhalle und hat Fotos gemacht. Fotos von den Leichen von Cary und Sterling Harper. Die Akte, die er in der Hand hielt, als ich ihn erwischte, hatte allerdings nichts mit den beiden zu tun.«
»Sind die Akten alphabetisch geordnet?«
»Er durchsuchte gerade die Schublade mit den Anfangsbuchstaben M und N.«
»M wie Madison?«
»Möglicherweise«, erwiderte ich. »Aber ihr Fall liegt im vorderen Büro unter Verschluss. In meinen Aktenschränken ist nichts über sie.«
Nach einer langen Stille klopfte er mit dem Zeigefinger auf seinen Block und erklärte: »Ich habe mir einmal zusammengeschrieben, was wir über diese Todesfälle wissen. Beryl Madison, Cary Harper und Sterling Harper. Ihre Geschichte ist verwickelt wie in einem Kriminalroman, oder? Und nun noch diese Intrige mit dem verschwundenen Manuskript, in die angeblich Ihre Dienststelle verwickelt ist. Ich habe Ihnen dazu mehrere Dinge zu sagen, Kay. Zum Ersten, wenn wieder jemand wegen des Manuskripts anruft, glaube ich, dass es die Sache für Sie einfacher macht, wenn Sie die Anrufer an mein Büro verweisen. Ich erwarte nichts anderes, als dass daraus eine aus den Fingern gesogene Anklage werden wird. Ich werde jetzt einmal meine Leute darauf ansetzen und schauen, ob wir die Posse nicht schon vor Beginn stoppen können. Zum Zweiten, und darüber habe ich lange und sorgfältig nachgedacht, möchte ich, dass Sie sich wie ein Eisberg benehmen.«
»Was genau meinen Sie damit?«, fragte ich ihn beunruhigt.
»Das, was an der Oberfläche sichtbar ist, ist nur ein Bruchteil dessen, was sich darunter befindet«, antwortete er. »Verwechseln Sie das nicht mit ›auf Tauchstation gehen‹. Obwohl Sie, praktisch gesehen, genau das tun werden. Halten Sie Presseverlautbarungen so knapp wie möglich, und machen Sie sich so uninteressant, wie es irgend geht.« Er fingerte wieder an seiner Uhrkette herum. »Aber je unsichtbarer Sie sind, desto mehr werden Sie in der Sache aktiv werden oder, wenn Sie so wollen, in sie verwickelt sein.«
»Verwickelt?«, protestierte ich. »Wollen Sie mir damit sagen, dass ich meine Arbeit tun soll und nichts als meine Arbeit und das Institut aus den Schlagzeilen halten soll?«
»Ja und nein. Ja, was Ihre Arbeit anbelangt. Dass es in Ihrer Macht steht, das Büro des Chief Medical Examiner aus den Schlagzeilen herauszuhalten, möchte ich bezweifeln.« Er hielt inne und faltete seine Hände auf der Tischplatte. »Ich kenne Robert Sparacino ziemlich gut.«
»Haben Sie ihn getroffen?«, fragte ich.
»Ich hatte das ausgesprochene Pech, beim Jurastudium seine Bekanntschaft zu machen«, erwiderte er.
Ich sah ihn ungläubig an.
»Columbia University, Jahrgang ’51«, fuhr Ethridge fort. »Ein fettleibiger, arroganter junger Mann
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