Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
sich aus damit herausrücken wollte, schnitt ich schließlich das Thema an.
»Was wissen Sie über Jeb Price?«, fragte ich.
»Seine Akte ist nicht gerade ergiebig«, erwiderte er und schaute ruhelos umher. »Keine Vorstrafen, keine Haftbefehle gegen ihn. Und singen will er auch nicht. Wenn er es täte, dann wäre es vermutlich Sopran, nach dem Ding, das Sie ihm verpasst haben. Ich war gerade eben noch oben beim Erkennungsdienst. Sie entwickeln im Moment den Film aus seiner Kamera. Wenn sie fertig sind, bringe ich Ihnen einen Satz Abzüge.«
»Haben Sie schon etwas davon gesehen?«
»Ich sah die Negative«, antwortete er.
»Und?«, wollte ich wissen.
»Bilder, die er im Kühlraum aufgenommen hat. Von den Leichen der Harpers«, sagte er.
Das hatte ich erwartet. »Er wird doch nicht ein Journalist für irgendeines dieser Revolverblätter sein«, vermutete ich im Scherz. »Träumen Sie ruhig weiter.«
Marino war heute nicht besonders leutselig. Er sah noch zerzauster aus als gewöhnlich, beim Rasieren hatte er sich zweimal am Kinn geschnitten, und seine Augen waren blutunterlaufen.
»Die meisten Reporter, die ich kenne, laufen nicht mit Neun-Millimeter-Kanonen voller Glaser-Patronen herum«, stellte Marino fest. »Und wenn man sie dann an die Wand stellt und nach Waffen absucht, fangen sie an herumzuwinseln und fragen einen nach einem Vierteldollar, damit sie den Rechtsanwalt ihrer Zeitung anrufen können. Nein, dieser Kerl ist kein Schmierfink, sondern ein echter Profi. Er muss ein Schloss geknackt haben, um hereinzukommen. Und er erledigt sein Geschäft an einem Feiertag, nachmittags, wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich jemand im Gebäude aufhält. Wir haben seinen Wagen etwa drei Blocks entfernt auf dem Parkplatz eines Supermarkts gefunden, einen Mietwagen mit Autotelefon. Er hatte genügend Munition im Kofferraum, um eine kleine Armee aufzuhalten, außerdem eine Mac-10-Maschinenpistole und eine kugelsichere Weste. Der ist ganz bestimmt kein Reporter.«
»Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob er ein Profi ist«, bemerkte ich und steckte eine neue Klinge auf mein Skalpell. »Eine leere Filmschachtel im Kühlraum liegenzulassen ist doch schlampige Arbeit. Und wenn er wirklich auf Nummer Sicher hätte gehen wollen, hätte er um zwei oder drei Uhr früh einbrechen müssen und nicht am helllichten Tag.«
»Sie haben recht. Das mit der Filmschachtel war Schlamperei«, stimmte mir Marino zu. »Aber den Zeitpunkt seines Eindringens kann ich mir erklären. Was, wenn ein Bestattungsunternehmen oder ein Rettungsdienst eine Leiche bringt, während Price im Kühlraum ist? Mitten am Tag konnte er so tun, als hätte er gerade dort zu arbeiten, und er hätte somit eine plausible Erklärung für seine Anwesenheit. Aber nehmen wir an, er wird um zwei Uhr morgens überrascht. Wie, um alles in der Welt, sollte er seine Anwesenheit zu einer solchen Stunde rechtfertigen?«
Was immer der Fall war, dachte ich, Jeb Price hatte nicht vorgehabt zu spaßen. Glaser Safety Slug war mit die schlimmste Munition, die man im Handel kaufen konnte. Die Patronen zerstoben nach dem Aufprall und peitschten durch Muskeln und Organe wie ein bleierner Hagelschauer. Eine Mac-10 wiederumist das bevorzugte Handwerkszeug von Terroristen und Drogenhändlern, eine Maschinenpistole, die man in Zentralamerika, im Nahen Osten und in meiner Heimatstadt Miami an jeder Straßenecke findet.
»Sie sollten sich mal überlegen, ein Schloss am Kühlraum anzubringen«, fügte Marino hinzu.
»Ich habe das schon an die Gebäudeverwaltung weitergegeben«, erwiderte ich.
Ich schob diese Vorsichtsmaßnahme schon seit Jahren immer wieder auf. Die Bestattungsinstitute und die Rettungsdienste mussten auch nach Büroschluss freien Zugang zum Kühlraum haben. Also hätte man den Wachmännern die Schlüssel geben müssen. Ebenso meinen regionalen Medical Examiners, wenn sie Bereitschaftsdienst hatten. Proteste und Probleme wären dann wohl nicht ausgeblieben. Verdammt, langsam hatte ich die Schnauze voll von Problemen.
Marino wandte seine Aufmerksamkeit jetzt Cary Harpers Leiche zu. Man musste weder eine Autopsie durchführen noch ein Genie sein, um die Todesursache festzustellen.
»Er hat mehrere Schädelbrüche und Risse im Gehirn«, erklärte ich.
»Wurde ihm die Kehle auch am Schluss durchgeschnitten wie in Beryls Fall?«
»Die Halsschlagadern sind zwar durchtrennt worden, dennoch sind seine Organe nicht übermäßig blutleer«, antwortete ich. »Wenn
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