Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Schultern hing eine Kamera an einem Lederriemen. Er sah so massiv und hart wie Marmor aus, und ich konnte nicht mehr schnell genug zurücktreten. Die Hände in den Handschuhen standen auf einmal still.
Als er lossprang, handelte ich im Reflex. Meine Arzttasche schnellte an ihrem Schulterriemen wie ein olympischer Hammer durch die Luft. Sie traf ihn mit solcher Wucht zwischen den Beinen, dass ihm vom Aufprall die Sonnenbrille von der Nase geschleudert wurde. Er fiel nach vorn, krümmte sich vor Schmerzen und war lange genug aus dem Gleichgewicht gebracht, dass ich ihn mit einem Tritt gegen den Knöchel zu Boden schicken konnte. Seinem weiteren Wohlbefinden nicht gerade zuträglich war die Tatsache, dass, als er aufschlug, sich seine Kamera ausgerechnet zwischen seinen Rippen und dem Boden befand.
Ich verstreute hastig diverse medizinische Utensilien auf dem Boden, als ich verzweifelt die Sprühdose mit Tränengas aus meiner Tasche hervorwühlte. Der harte Strahl traf ihn direkt im Gesicht, und er brüllte vor Schmerz laut auf. Er griff sich an die Augen und wälzte sich schreiend auf dem Boden, während ich das Telefon packte, um Hilfe zu holen. Sicherheitshalber verpasste ich ihm, bevor der Wachmann hereingeeilt kam, nocheine zweite Dosis. Als schließlich die Polizei eintraf, flehte mein Gefangener sie hysterisch schluchzend an, ihn in ein Krankenhaus zu bringen, aber ein wenig mitfühlender Officer bog ihm die Arme auf den Rücken, legte ihm Handschellen an und durchsuchte ihn nach Waffen.
Aus dem Führerschein des Eindringlings ging hervor, dass er Jeb Price hieß, vierunddreißig Jahre alt war und in Washington, D.C., wohnte. Im Bund seiner Cordhose steckte eine Smith & Wesson Automatic, Kaliber neun Millimeter, mit vierzehn Schuss Munition im Magazin und einem in der Kammer vor dem Lauf.
Ich konnte mich später nicht mehr daran erinnern, dass ich noch in das Büro neben der Leichenhalle gegangen war und mir dort vom Schlüsselbrett die Schlüssel des zweiten Dienstwagens nahm, den unsere Behörde geleast hatte. Aber ich musste das getan haben, denn als die Nacht hereinbrach, parkte ich den dunkelblauen Kombi in der Zufahrt zu meinem Haus. Der Wagen war übergroß, weil wir damit normalerweise Leichen transportierten. An seinem Rückfenster hing ein diskreter Vorhang, und im hinteren Teil des Wagens befand sich eine herausnehmbare Ladefläche aus Sperrholz, die ein paarmal in der Woche mit dem Schlauch abgespritzt werden musste. Der dunkelblaue Kombi war eine Mischung aus Familienkutsche und Leichenwagen, und es gab meiner Meinung nach nur ein Fahrzeug, das sich schwerer einparken ließ, und das war die Queen Elizabeth 2 .
Wie ein Zombie wankte ich direkt nach oben, ohne meinen Anrufbeantworter abzuhören oder ihn auszuschalten. Meine rechte Schulter und mein rechter Ellbogen taten mir weh. Die Knöchel meiner rechten Hand ebenfalls. Ich legte meine Kleider über einen Stuhl, nahm ein heißes Bad und fiel wie betäubt ins Bett, in tiefen, tiefen Schlaf. In einen Schlaf, der fast so tief war wie der Tod. Die Dunkelheit lastete schwer auf mir, und ich versuchte hindurchzuschwimmen. Mein Körper wog schwer wie Blei, und das Telefon, das neben meinem Bett geklingelt hatte, war plötzlich wieder still. Mein Anrufbeantworter hatte sich eingeschaltet.
»... ich weiß nicht, wann ich dich wieder anrufen kann, alsohör zu. Bitte, Kay, hör mir zu. Ich habe gehört, was Cary Harper zugestoßen ist ...«
Mein Herz schlug heftig, und ich öffnete die Augen. Marks eindringliche Stimme riss mich aus meiner Erstarrung.
»... bitte, halte dich da raus. Misch dich nicht ein. Bitte. Ich werde mit dir reden, sobald ich kann ...«
Als ich endlich den Hörer fand, erklang nur noch das Freizeichen. Ich hörte seine Botschaft noch einmal ab, ließ mich in die Kissen fallen und fing an zu weinen.
9
Als ich am nächsten Morgen gerade mit einem y-förmigen Schnitt Cary Harpers Körper öffnete, kam Marino in die Leichenhalle. Er sah stumm zu, wie ich die Rippen entfernte und die Organe aus dem Brustkasten hob. Wasser schoss platschend in große Becken, chirurgische Instrumente klapperten und klickten, und am anderen Ende des Raumes schärfte einer der Obduktionsassistenten ein Messer, dessen lange Klinge mit einem schabenden Geräusch über den Wetzstein hin- und herfuhr. Wir hatten an diesem Morgen vier Fälle zu bearbeiten, und so waren die Autopsietische aus rostfreiem Edelstahl alle besetzt.
Da Marino anscheinend nicht von
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