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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Ähnliches entdecken konnten. Nur Zeug, das frei verkäuflich ist.«
    Eine Überdosis von Medikamenten stand natürlich auch bei mir ganz oben auf der Liste der möglichen Todesursachen, aber im Moment ergab es wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Auch wenn ich noch so sehr darum bettelte – und man hatte mir bereits wiederholt versichert, dass dieser Fall in den Labors höchsten Vorrang habe –, würden die toxikologischen Untersuchungen noch Tage, vielleicht sogar Wochen dauern. Was ihren Bruder anbelangte, so hatte ich bereits eine recht plausible Theorie.
    »Ich denke, dass Cary Harper mit einem selbstgebastelten Totschläger ermordet wurde, Marino«, sagte ich. »Vielleicht mit einem Stück Metallrohr, das mit Schrot gefüllt war, damit es schwerer wurde. Die Enden waren mit einer Masse wie Plastilin zugestopft, damit die Schrotkugeln drinnen blieben. Nach einpaar Schlägen flog einer der Plastilinklumpen heraus, und die Schrotkugeln verteilten sich überall.«
    Er streifte nachdenklich seine Zigarettenasche ab. »Das passt nicht so ganz zu dem ganzen Söldner-Spielzeug, das wir in Prices Auto gefunden haben. Und ich glaube auch nicht, dass sich die alte Harper-Dame so etwas ausgedacht haben könnte.«
    »Ich nehme an, dass Sie weder Plastilin, Modellierton noch Schrot in ihrem Haus gefunden haben.«
    Er schüttelte den Kopf und sagte: »Also, ganz bestimmt nicht.«
     
    Den Rest des Tages über klingelte mein Telefon fast ununterbrochen. Die Presseagenturen hatten Mutmaßungen über meine angebliche Rolle beim Verschwinden eines »rätselhaften und wertvollen Manuskripts« und übertriebene Schilderungen davon, wie ich einen Angreifer, der in mein Büro eingedrungen war, »kampfunfähig geschlagen« hatte, in Umlauf gebracht. Andere Reporter wollten auch etwas von der Story haben. Einige schlichen auf dem Parkplatz vor dem Gerichtsmedizinischen Institut herum oder erschienen in der Eingangshalle, Mikrophone und Kameras ständig im Anschlag wie schussbereite Gewehre. Ein besonders dreister Radiomoderator verbreitete über seinen Sender, dass ich die einzige Leichenbeschauerin im ganzen Land sei, »die mit ihren Gummihandschuhen gern mal in fremde Taschen greift«. Die ganze Situation war kurz davor, außer Kontrolle zu geraten, und ich fing an, Marks Warnungen ein wenig ernster zu nehmen. Sparacino war durchaus in der Lage, mir das Leben zur Hölle zu machen.
    Immer, wenn Thomas Ethridge IV etwas auf dem Herzen hatte, ließ er sich nicht von Rose vermitteln, sondern wählte direkt meine persönliche Telefonnummer. Jetzt war ich über seinen Anruf keineswegs erstaunt. Ich glaube, ich war sogar ein wenig erleichtert. Am späten Nachmittag saß ich dann bei ihm in seinem Büro. Er war alt genug, um mein Vater zu sein, und einer von den Männern, deren jugendliche Unbefangenheit sich im Lauf der Jahre in einen monumentalen Charakter verwandelt hatte.
    Ethridge hatte ein Gesicht wie Winston Churchill und hätte viel besser ins Parlament oder in einen von Zigarrenrauch durchzogenen Salon gepasst. Wir waren immer sehr gut miteinander ausgekommen.
    »Ein Publicity-Trick? Und Sie meinen, dass uns das irgendjemand abnimmt, Kay?«, fragte mich der Generalstaatsanwalt und spielte gedankenverloren mit der rotgoldenen Uhrkette, die über seiner Weste hing.
    »Ich habe das Gefühl, dass selbst Sie es mir nicht glauben«, erwiderte ich.
    Statt mir zu antworten, nahm er seinen dicken schwarzen Montblanc-Füller zur Hand und schraubte langsam die Kappe ab.
    »Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Chance haben wird, mir zu glauben oder nicht zu glauben«, fügte ich lahm hinzu. »Mein Verdacht gründet sich nicht auf konkrete Tatsachen, Tom. Mit meiner Anklage reagiere ich nur auf das, was Sparacino tut, und bestimmt erhöhe ich damit nur seinen Spaß an der Geschichte.«
    »Sie fühlen sich wohl sehr allein gelassen, Kay?«
    »Ja. Und ich bin es auch, Tom.«
    »Solche Affären können rasch außer Kontrolle geraten«, sinnierte er. »Die Schwierigkeit wird darin bestehen, diese hier im Keim zu ersticken, ohne noch mehr Aufsehen zu erregen.« Ethridge rieb sich seine müden Augen hinter der Hornbrille, schlug einen Notizblock auf und erstellte eine von seinen berühmten Listen, indem er in der Mitte des Blattes von oben nach unten einen Strich zog und dann Vorteile auf die eine und Nachteile auf die andere Seite davon schrieb. Ich hatte keine Ahnung, für wen oder was diese Vor- und Nachteile gelten sollten.

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