Flucht im Mondlicht
ganzen Körpers seinen Namen auf die Tafel.
»Ich bin Mr Torres, euer Klassenlehrer. Ich unterrichte auch Geschichte und Erdkunde. Wir sind hier im Klassenzimmer der 6B. Falls jemand von euch nicht zur 6B gehört, ist er im falschen Raum.«
Die Schüler schauten sich um, um zu sehen, ob jemand Anstalten machte, zu gehen.
Fadi blickte zur Sicherheit noch einmal auf seinen Stundenplan. Ja, ich bin in der Klasse 6B . Er musste sich also nicht auf die peinliche Suche nach dem richtigen Klassenzimmer machen.
»Wie es aussieht, habe ich dieses Jahr eine schlaue Klasse erwischt«, sagte Mr Torres mit einem Grinsen. Er griff in seine Aktentasche und zog ein Bündel Papiere heraus. »Hier sind die Infos für diese Woche und der Speiseplan fürs Mittagessen.«
Fadis Gedanken schweiften ab, während Mr Torres weiterredete. Er schaute aus dem Fenster und beobachtete E ichhörnchen, die Baumstämme hinunterflitzten und Nüss e im Rasen versteckten. Er schloss das linke Auge und konzentrierte sich auf ein Eichhörnchen, als wollte er es fotografieren. Das gäbe ein tolles Bild , dachte er und wünschte, er wäre draußen bei diesen niedlichen Geschöpfen mit den buschigen Schwänzen.
Fadi feilte noch ein wenig an seinen Skizzen von Amöben und anderen einzelligen Mikroorganismen, die die Klasse durchgenommen hatte, dann legte er sie in sein Biologie-Heft und wartete, bis alle anderen zum Mittagessen gerannt waren. Seit der ersten Stunde hatte er zu niemandem ein Wort gesagt und niemand hatte ihn angesprochen. Im Mathekurs hatte er zwei afghanische Jungen entdeckt, die in Farsi miteinander geflüstert hatten, aber er hatte sich nicht getraut, zu ihnen zu gehen. Es ist, als würde ich nicht existieren . Wenigstens schien der Unterrichtsstoff nicht besonders schwierig zu sein. In Mathematik hatten sie mit Brüchen gerechnet. Das hatte seine Mutter ihm schon letztes Jahr beigebracht.
Fadi schulterte seinen Rucksack, blickte auf den Plan von der Schule, der auf die Rückseite seines Stundenplans aufgedruckt war, und machte sich auf den Weg in die Cafeteria. Einmal bog er falsch ab und lief im Kreis, aber schließlich fand er den Eingang des Speisesaals. Er blieb kurz vor der großen hellen Flügeltür stehen, griff in die Seitentasche seines Rucksacks und holte die Essenskarte heraus. Mit dem harten Plastikviereck in der Hand ging er in den großen lauten Raum. Er entdeckte die beiden afghanischen Jungen aus dem Mathekurs und folgte ihnen mit einigem Abstand. Er schnappte sich ein Tablett und stellte sich in die Schlange. Die Kinder um ihn herum erzählten einander, was sie in den Sommerferien gemacht hatten. Sie waren in Disneyland, am Strand oder Zelten im Yosemite-Nationalpark.
Fadi beobachtete sie mit wachsendem Groll. Bestimmt musste keiner von denen fliehen und verlor dabei seine kleine Schwester .
»Was hättest du gern?«, fragte die müde aussehende Frau hinter der Essenstheke.
Fadi betrachtete die zwei preisgünstigen Gerichte, zwischen denen er wählen konnte. Kleine Cheeseburger mit Pommes frites oder etwas, das sich »Bohnen-und-Käse-Burrito« nannte. Cheeseburger kannte er, Burritos nicht. Er fand, dass die Dinger komisch aussahen. Er musste sich erst an das amerikanische Essen gewöhnen und konnte noch nicht sagen, ob es ihm größtenteils schmeckte oder nicht. Erdnussbutter mochte er. Die konnte er jeden Tag essen, auf afghanischem Fladenbrot und mit Pflaumenmarmelade.
»Mach hin«, knurrte eine Stimme hinter ihm.
Fadi blickte über die Schulter und erschrak. Es war dieser gehässige Junge aus seiner Klasse. Der Große mit den schmalen mandelförmigen Augen. Ikes Freund. Wie heißt er noch mal? Felix .
Felix’ Augen verengten sich. »Was gibt’s da zu glotzen?«
»Nichts«, flüsterte Fadi. Er senkte den Blick auf Felix’ modische knöchelhohe Turnschuhe und sah weg.
»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, sagte die Frau. Sie zog ihr Haarnetz zurecht, klopfte mit ihrem Löffel an die Glaswand der Essenstheke und deutete nach unten.
»Ich möchte die da, bitte«, sagte Fadi und zeigte auf die große dampfende Platte mit den Cheeseburgern. Hastig stellte er noch eine Tüte Apfelsaft auf sein Tablett und eilte zur Kasse.
Bevor der Kassierer etwas sagen konnte, reichte Fadi ihm schnell die Plastikkarte. Er blickte zu Felix zurück, der zum Glück immer noch überlegte, was er wollte. Der Kassierer steckte die Karte in einen Schlitz in der Kasse, die sofort laut piepte.
»Wann hast du die bekommen?«,
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