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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N. H. Senzai
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Wenn sie auf dem verschlissenen orangen Sofa lag und ein Buch las, beobachtete er ihre Finger mit den schwarz lackierten Nägeln beim Umblättern der Seiten. Wenn sie Erdnussbutter auf Salzkräcker strich, stand er vor der Spüle und wusch Teller ab. Wenn sie ihrer Mutter einen dampfenden Teller Suppe brachte, spähte er ihr um die Ecke nach. Je länger er seine große Schwester beobachtete, desto mehr gewann er den Eindruck, dass sie nicht mehr mürrisch oder abweisend war. Sie wirkte besorgt … und traurig. Er erkannte, dass er so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen war, dass er nie darüber nachgedacht hatte, was Noor in den letzten Wochen durchgemacht hatte.
    Vor Kurzem hatte Noor ihr langes schwarzes Haar abschneiden lassen. Ihre neue Frisur brachte ihr fein geschnittenes Gesicht zur Geltung und betonte ihre ernsten dunklen Augen. Als Safuna ihre Tochter zum ersten Mal damit sah, war sie enttäuscht, doch Noor erklärte ihr, dass man schwitzte, wenn man den ganzen Tag bei McDonald’s an der Fritteuse stand. Da sei ein Kurzhaarschnitt einfach besser. Fadi fand, dass der neue Stil ihr gut stand, hatte jedoch nicht den Mut, ihr das zu sagen.
    Er wünschte, er könnte mit Noor reden. Mehr als ein halbes Dutzend Mal hatte er sich vorgenommen, ihr zu sagen, dass es nicht ihre Schuld war, sondern seine, dass Mariam in Dschalalabad zurückgeblieben war. Am Sonntagabend trug er einen Stapel Wäsche in ihr Zimmer. Im Türrahmen blieb er stehen und druckste herum. Sie deutete auf ihr Bett und ignorierte ihn, während sie ihre Blusen bügelte. Er betrachtete ihr Profil und brachte kein Wort heraus. Als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen, legte er die Wäsche auf die Tagesdecke und rannte aus dem Zimmer. Er konnte es ihr nicht sagen. Um ihr klarzumachen, dass sie keine Schuld hatte, würde er zugeben müssen, dass alles seine Schuld war, und er hatte nicht den Mut, das laut zu sagen.
    Am Dienstagmorgen fuhr Habib ihn zur Schule. Es war nicht weit von ihrer Wohnung zur Brookhaven Middle School. Zur Überraschung aller war Safuna an diesem Morgen früh aufgestanden und hatte ihnen das Frühstück gemacht – sogar Fadis Lieblingsfrühstück: Spiegeleier und geröstetes afghanisches Brot mit Erdnussbutter. Fadi saß auf dem Beifahrersitz und beneidete Noor, deren Highschool erst ein paar Tage später begann. Während sein Vater im Schulsekretariat das Anmeldeformular ausfüllte, starrte er durchs Fenster zu den Schülern hinüber, die in die angrenzende Grundschule strömten. Ein Mädchen mit einem langen, geflochtenen Zopf fiel ihm ins Auge. Ihr federnder Gang erinnerte ihn an Mariam.
    Mariam wäre heute in die erste Klasse gekommen , dachte er bedrückt. Er wünschte, seiner Mutter ginge es gut genug, um ihn zu Hause zu unterrichten, so wie in Kabul, aber das kam nicht infrage.
    Die schneidende Stimme der Schulsekretärin riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.
    »Willkommen in Brookhaven, junger Mann«, sagte sie. Sie blickte durch eine Zweistärkenbrille zu ihm hinab und drückte ihm eine harte Plastikkarte in die Hand. »Mit dieser Karte bekommst du ein kostenloses Mittagessen. Lege sie dem Kassierer vor, nachdem du dir deine Mahlzeit geholt hast.«
    »Danke«, sagte Fadi. Als er die Karte in seinen Rucksack steckte, sah er den angespannten Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters.
    »Vielen Dank«, sagte Habib und nickte der Sekretärin zu. »Das ist großartig. Ich habe heute Morgen nämlich vergessen, ihm ein Pausenbrot einzupacken.«
    Es ist, weil wir arm sind. Deshalb bekomme ich ein kostenloses Mittagessen. Nach dieser Erkenntnis fühlte Fa di sich noch unwohler.
    »Ich wünsch dir einen schönen Tag«, sagte Habib. »Wenn du heimkommst, musst du mir genau erzählen, wie es war.« Nach einer schnellen Umarmung eilte er zu seinem Taxi zurück. Er musste sich am Flughafen zur Arbeit melden und wollte nicht zu spät kommen. Der Kollege aus der Taxi-Zentrale regte sich bereits über ihn auf, weil er sich im Gebiet um die Bucht von San Francisco noch nicht so gut auskannte. Ein Taxifahrer, der seinen Fahrgast nicht zur richtigen Adresse bringen konnte, verdiente nicht viel.
    Fadi stand mit seinem Stundenplan in der Hand in der Tür des Sekretariats. Er blickte den langen Flur hinunter, der voller Kinder war, und versuchte sich zurechtzufinden. Schüler strömten vorbei, begrüßten alte Freunde und klatschten einander ab. Es sind so viele . Das war er nicht gewohnt. Er war immer nur mit seinen

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