Flucht im Mondlicht
ein kleines Mädchen ganz allein da draußen herumirrte, deshalb hätte sie ihr Versteck verlassen, um nach ihm zu suchen.«
»Oh, Allah, sei uns gnädig«, sagte Onkel Amin.
»Also diese Frau, die Aischa heißt, sah Mariam mit einer Familie reden und dachte, ihre Eltern hätten sie gefunden … deshalb ging sie in das Lagerhaus zurück.«
»Eine Familie? Was für eine Familie?«, flüsterte Safuna.
»Aischa sah ein Ehepaar mit zwei Söhnen, bevor sie in ihr Versteck zurückkehrte«, erwiderte Habib. »Professor Sahib fand noch einen Mann, der es in jener Nacht auch nicht auf den Lastwagen geschafft hatte, aber der konnte sich nicht erinnern, Mariam oder die besagte Familie gesehen zu haben.«
»Wer weiß, bei was für Leuten sie jetzt ist«, stöhnte Safuna.
»Es müssen gute Menschen sein, wenn sie sich eines hilflosen kleinen Mädchens annahmen«, sagte Tante Nilufer besänftigend.
»Aber wer weiß, wo sie Mariam hingebracht haben!«, jammerte Safuna.
»Nun, wir wissen, dass die Familie nach Peschawar wollte«, sagte Onkel Amin. »Wahrscheinlich wird sie die Fluchthelfer dazu bringen, sie über die Grenze zu schmuggeln. Schließlich hat sie schon dafür bezahlt. Wenn Mariam Peschawar erreicht, wird sie viel leichter zu finden sein.«
»Habib hat Mariam ermahnt, niemandem zu sagen, wer sie ist«, unterbrach ihn Safuna. »Was ist, wenn sie d iesen Leuten nicht ihren richtigen Namen nennt? Sie wir d ihnen erzählen, sie sei die Tochter eines Bauern oder Ziegenhirten, oder irgendeine andere Geschichte erfinden.«
Mutter hat recht , dachte Fadi. Schweiß perlte ihm von der Stirn. Vater hat Mariam eingeschärft, niemandem zu sagen, wer sie ist .
»Wir müssen zurück nach Peschawar!«, rief Safuna. Sie klang mit jeder Minute verzweifelter. »Wir hätten gar nicht ohne Mariam abreisen dürfen.«
»Wir konnten nicht länger bleiben«, sagte Habib sanft. »Sonst hätten wir ohne eine Chance auf Asyl in Pakistan festgesessen. Wir wären heimatlos geworden, denn eine Rückkehr nach Afghanistan war unmöglich.«
»Was ist wichtiger? Asyl zu erhalten oder unsere Tochter zu finden?«, schrie Safuna. »Wenn du vor fünf Jahren nicht so hartnäckig darauf bestanden hättest, dass wir nach Afghanistan zurückkehren, dann wären wir nie in diese schreckliche Situation geraten!«
Fadi lehnte sich gegen die Wand, weil ihm die Knie zitterten. Er hatte seine Mutter noch nie in diesem Ton zu seinem Vater sprechen hören.
»Wo ist dein Ghairat ?«, fragte Safuna bitter.
Fadi erstarrte und in der Wohnung wurde es ganz still. Es war eine der größten Beleidigungen für einen Paschtunen, wenn sein Ghairat – seine Fähigkeit, die Familienehre zu bewahren – infrage gestellt wurde. Fadi konnte sich vorstellen, wie aufgebracht sein Vater sein musste und wie er sich vor den anderen schämte.
»Gib nicht Bruder Habib die Schuld, Safuna, Jan «, sagte Tante Nilufer hastig. »Wer hätte ahnen können, das s so etwas passieren würde? Es waren unglückliche Umstände. Niemand hat Schuld daran.«
»Oh, Habib«, schluchzte Safuna, deren Stimmung plötzlich umgeschlagen war. »Es tut mir so leid. Ich hätte das nicht sagen dürfen … Ich bin nur so müde und die Medikamente vernebeln mir den Kopf … Ich bin zurzeit einfach nicht mehr ich selbst.«
»Nein«, sagte Habib leise. »Du hast recht. Es ist meine Schuld. Ich bin der Familienvorstand. Ich trage die Verantwortung.«
Schweigen breitete sich in der Wohnung aus. Fadi sank auf die Knie, von Schuldgefühlen überwältigt. Weder sein Vater noch Noor noch seine Mutter konnten etwas dafür, dass Mariam zurückgeblieben war. Das war allein seine Schuld. Er ging langsam ins Wohnzimmer zurück und blieb vor der Runde stehen. Er schluckte und öffnete den Mund, um ein Geständnis abzulegen. Aber während sein Geist nach den richtigen Worten suchte, kam etwas ganz anderes aus seinem Mund.
»Mariam weiß, wo wir hinwollten«, stieß er hervor. »Ich sagte ihr, dass Mutter eine Cousine in Peschawar hat, die uns an der Grenze abholen würde.«
»Das hast du ihr gesagt?«, fragte Safuna und wischte sich die Tränen ab.
»Ja«, erwiderte Fadi. »Aber ich wusste Tante Nargis’ Namen nicht mehr, nur dass sie deine Cousine ist und dass sie zusammen mit ihrem Mann eine Klinik für Flüchtlinge eingerichtet hat.«
»Mariam weiß also, dass wir Verwandte in Peschawar haben«, sagte Tante Nilufer aufgeregt. »Das ist gut. Vielleicht bittet sie die Familie, bei der sie ist, sie in eine
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