Flucht im Mondlicht
Es war ein drückend heißer Augusttag und die kleine Wohnung war wie ein Backofen. Er sah sich darin um und fand die Enge beklemmend. Hier gab es nichts Schönes, nur verblichene Erinnerungen an Vormieter, die inzwisch en etwas Besseres gefunden hatten. Noor hatte gemurrt, weil sie ein Zimmer mit ihm teilen sollte. Da hatte er sich sofort bereit erklärt, im Wohnzimmer zu schlafen, weil ihm das eh lieber war.
Am ersten Abend in der neuen Wohnung lag Fadi auf einem Schlaflager aus alten Decken von der Heilsarmee auf dem Wohnzimmerfußboden. Seine Mutter war früh zu Bett gegangen, und Habib und Noor arbeiteten noch. Hellwach lag er da, bis zum Kinn zugedeckt mit einer verblichenen Batman-Steppdecke. Er vermied es, zur Decke mit den hässlichen Rissen hinaufzuschauen, die wie ein großes Spinnennetz aussahen und bei ihm Fantasien von einer dicken Giftspinne weckten, die es auf ihn abgesehen hatte. Er stauchte das Kissen mit der klumpigen Füllung zusammen und drehte sich auf die andere Seite, aber er fand keinen Schlaf. Schließlich setzte er sich hin und zog Die heimlichen Museumsgäste aus seinem Rucksack. Er kroch zum offenen Fenster hinüber, durch das eine kühle Brise hereinwehte, und ließ sich darunter nieder. Im sanften Licht des Vollmonds schlug er in dem Buch mit den Eselsohren eine seiner Lieblingsstellen auf.
Er musste zugeben, dass Claudia ein sehr kluges Mädchen war. Sie hatte ihre Flucht ins Metropolitan Museum in allen Einzelheiten geplant. Sie hatte sogar ihren Bruder überredet, mitzukommen. Er war ein Geizkragen und hatte viel Geld zusammengespart. Fadi fragte sich, was sie getan hätte, wenn sie erwischt worden wäre. Da hörte er jemanden die Haustür aufschließen. Er schob das Buch unters Sofa, verkroch sich unter die Decken und tat so, als schliefe er.
»Danke fürs Abholen, Vater«, sagte Noors müde Stimme.
»Das werde ich von nun an immer tun«, lautete Habibs Antwort. »Ich will nicht, dass du so spät abends allein nach Hause läufst.«
»Gut.«
Fadi hörte, wie ein Reißverschluss aufgezogen wurde.
»Ich möchte dir das geben, Vater«, flüsterte Noor.
Danach war es still. Fadi spitzte die Ohren. Was will Noor Vater denn geben?
»Was ist, Vater?«
Nach einem kurzen Schweigen erwiderte Habib: »Das ist dein Geld, Noor, Jan . Du hast es selbst verdient und ich bin sehr stolz auf dich.«
»Aber ich möchte dir einen Teil davon abgeben, Vater … als Zuschuss zur Haushaltskasse. Ich weiß, dass das Geld knapp ist«, fügte sie hinzu.
»Du bist die beste Tochter der Welt«, flüsterte Habib gerührt. »Und dein Geld wird der Familie eine große Hilfe sein.«
Fadi konnte es kaum glauben. Noor gab Vater Geld, das sie bei McDonald’s verdient hatte?
»Komm, jetzt essen wir etwas von dem Rindfleischeintopf, den Tante Nilufer heute Mittag vorbeigebracht hat. Ic h bin ganz ausgehungert vom vielen Herumfahren. Heute musste ich so eine verrückte Frau stundenlang durch die Stadt kutschieren. Sie suchte ein Hutgeschäft, das es gar nicht gab. Wenigstens habe ich bei dieser Fahrt ganz gut verdient.«
» Vater«, sagte Noor. Ihre Stimme schien auf einmal eine Oktave tiefer. »Ich muss dir etwas sagen. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen … aber nicht vor Mutter.«
Fadi erstarrte. Schreckliche Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sie weiß es!
»Was denn?«
»An dem Tag in Dschalalabad … als wir Afghanistan verließen …«
Noor klang angespannt.
»Ja, was war an dem Tag?«
Fadi begann unter seinen Decken zu schwitzen. Sie wird es ihm sagen … sie wird ihm sagen, dass ich Mariam losgelassen habe …
»Ich habe dich enttäuscht«, flüsterte Noor.
»Mich enttäuscht? Inwiefern?«
»Ich sollte auf Fadi und Mariam aufpassen. Aber in dem ganzen Chaos habe ich sie aus den Augen verloren … Ich hätte auf sie warten müssen.«
»Du hast nichts falsch gemacht, Noor, Jan «, beruhigte Habib seine Tochter.
»Doch, ich bin die Älteste. Ich hätte auf die beiden aufpassen müssen … Es ist meine Schuld, dass Mariam verschwunden ist!«
Fadi war bestürzt. Er konnte nicht fassen, dass Noor glaubte, es wäre ihre Schuld, dass Mariam zurückgeblieben war.
Alle glauben, es wäre ihre Schuld, dass Mariam verschwunden ist. Dabei ist es ganz allein meine Schuld. Ich bin derjenige, der es nicht verdient, zu dieser Familie zu gehören. Ich bin derjenige, der sie auseinandergerissen hat.
Brookhaven
Das ganze Wochenende, bevor die Schule anfing, beobachtete Fadi Noor genau.
Weitere Kostenlose Bücher