Flucht im Mondlicht
fragte er. Er zog die Karte heraus und inspizierte sie über den Rand seiner Brille.
»Ähm, heute Morgen.«
Der Mann versuchte erneut, den Betrag von der Karte abzubuchen. Wieder piepte die Kasse laut. »Warte. Ich muss das Sekretariat anrufen.«
»Bitte versuchen Sie es noch einmal«, bat Fadi den Kassierer. Komm schon, funktioniere! , beschwor er die Kasse stumm. Er blickte kurz zurück zu Felix, der sich gerade am Getränkestand eine extragroße Cola zu seiner Pizzaschnitte holte.
Fadi hielt den Atem an, als der Kassierer den Betrag erneut eingab. Diesmal akzeptierte die Maschine die Karte und spuckte eine Quittung aus. »Na so was«, murmelte der Kassierer.
Just als Felix sein Tablett neben das von Fadi knallte, gab der Kassierer die Karte zurück.
Fadi steckte sie schnell ein und ging mit seinem Tablett weiter, aber er sah noch, dass Felix hämisch grinste, als er sein Geld herausholte und es dem Kassierer gab. Fadis Magen krampfte sich zusammen. Das ist gar nicht gut .
Die Cafeteria platzte praktisch aus allen Nähten. Schüler drängten sich auf den Bänken, erzählten sich Geschichten und verspeisten ihr Mittagessen. Fadi stand abseits, ließ den Blick über die vielen unbekannten Gesichter schweifen und fragte sich, wo er sich hinsetzen sollte. Er fluchte und wünschte, Salmai hätte zur selben Zeit Mittagspause wie er. Da er keinen freien Tisch fand, durchquerte er den Raum und setzte sich hinten neben dem Notausgang auf den Boden. Er griff nach seiner Tüte Apfelsaft und machte sie auf, als ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren vorbeilief. Sie war so ins Gespräch mit ihren Freundinnen vertieft, dass sie nicht merkte, dass ihr Geldbeutel aus ihrem kleinen rosaroten Handtäschchen fiel. Fadi hob ihn auf und lief dem Mädchen nach.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich glaube, der gehört dir.«
Die Mandelaugen des Mädchens weiteten sich vor Überraschung.
»Ja. Danke. Das ist echt nett von dir.«
Nun erkannte Fadi die Schülerin wieder. Das war die, die Klassensprecherin werden wollte. »Kein Problem«, sagte er schulterzuckend.
»Ich heiße Anh, Anh Hong.« Sie streckte ihm forsch die Hand entgegen.
Fadi schüttelte sie zaghaft. »Ich bin Fadi. Fadi Nurzai.«
»Also, nochmals danke, Fadi«, sagte Anh. Dann lief sie mit ihren Freundinnen weiter.
Fadi hockte sich wieder hin, nahm einen Bissen von seinem Cheeseburger und beobachtete die Schüler und Schülerinnen, die wie Schneeflocken in einem Sturm an ihm vorbeischwirrten. Es kam ihm vor, als wäre er hinter einer Kamera verborgen und würde durch die Linse eine andere Welt in Bruchstücken vorbeiwirbeln sehen.
Gesichtet
Als Fadi die Treppe zur Wohnung seiner Familie hinauf stieg, drangen von oben gedämpfte Stimmen herab. Eigen tlich sollte noch gar niemand daheim sein , dachte er und presste das Ohr an die Eingangstür. Von drinnen hörte er die dröhnende Stimme von Onkel Amin. Er schloss die Tür auf, trat ein und sah seine Eltern, Onkel Amin und Tante Nilufer im Wohnzimmer sitzen, bei einer Kanne Tee und einer Schale Zuckermandeln.
»Professor Sahib fand ein paar Frauen, die in jener Nacht auch auf den Lastwagen zu gelangen versuchten«, erklärte Habib den anderen Erwachsenen. »Sie erinnerten sich, dass sie ein kleines Mädchen weinend am Straßenrand stehen sahen.« Habibs Gesicht war gerötet, als er aufblickte und Fadi hereinkommen sah.
Mit klopfendem Herzen verzog Fadi sich um die Ecke, in den Flur. Er wollte nicht aufgefordert werden, zum Spielen hinauszugehen. Er wollte hören, was los war.
Habib fuhr fort. »Die Frauen waren Schwestern und wollten ihren Vater zu einer medizinischen Behandlung nach Peschawar bringen. Sie hatten es schwer mit dem alten Mann, weil er sehr krank und schwach war.«
Ich erinnere mich an sie , dachte Fadi. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war über den alten Mann hinweggeschritten, weil er es so eilig gehabt hatte, zum Lastwagen zu kommen.
»Die Frauen sagten, die Menge hätte sich in Sekundenschnelle aufgelöst, als die Taliban die Straße heruntergerast kamen und den Lastwagen verfolgten. Sie schleppten ihren Vater zu einem Lagerhaus und versteckten sich dort.«
»Sind sie sicher, dass es Mariam war?«, fragte Tante Nilufer.
»Ihre Beschreibung des Mädchens und seiner Kleidung passt auf Mariam«, sagte Habib.
»Bekamen sie mit, was aus ihr wurde?«, fragte Safuna ungeduldig.
»Die Schwester, mit der Professor Sahib sprach, erzählte ihm, es hätte ihr keine Ruhe gelassen, dass
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