Flucht in die Hoffnung
erfuhren, dass es bei gutem Wetter am nächsten Tag losgehen
sollte, vermutlich um die Mittagszeit. Jedes Mal, wenn ich zur Toilette ging
und einen Blick in den Aufenthaltsraum warf, sah ich, dass neue Männer
angekommen waren, und kurz vor Mitternacht lagen sie eng aneinander auf dem
Boden. Emira und ich schliefen erschöpft und tief in unserem Extrazimmer, bis
uns die Männerstimmen von nebenan weckten.
»Mama, wie ist das Wetter?«, lautete Emiras
erster Satz an diesem Tag.
»Ich glaube, es sieht gut aus«, sagte ich, obwohl ich keine Ahnung
hatte.
Zum Frühstück gab es Brot mit Olivenöl und Milch. Die Palmen vor dem
Fenster bewegten sich nur sacht. Es hieß, dass es mittags losgehen würde, um
zwölf oder um dreizehn Uhr. Später hieß es mehrfach, es würde in einer Stunde
losgehen. Dann hieß es: bald. Schließlich am frühen Abend. Das Warten war
zermürbend.
Ich fragte Lotfi, ob er uns ans Meer begleiten würde, ich wollte die
Wellen selbst in Augenschein nehmen, denn wie ich den Gesprächen der Männer
entnommen hatte, waren sie das Problem und nicht der Wind. Wie hoch schlugen
die Wellen? Ich sah Fischerboote auf dem Meer schaukeln und blickte schnell
weg. Ich durfte mir nicht vorstellen, was auf uns zukommen würde – sonst wäre
ich vielleicht weggelaufen.
Wir gingen am Strand entlang, und mit einem Mal spürte ich, dass ich
dieses Land noch immer sehr mochte, von dem ich mich nun bald verabschieden
würde, vielleicht für immer. Sobald ich darüber nachdachte, was uns in Kürze
bevorstand, fürchtete ich umzukippen. Am besten war es, nicht zu denken. Ich
musste im Jetzt bleiben, mehr konnte ich nicht tun. Der Rest lag in Gottes
Hand, und dieses Mal würde er uns hoffentlich helfen. Wir waren bis zum
Äußersten gegangen. Ich hatte alles in meiner Macht Stehende unternommen, um
Emira aus dem Land zu holen; ich hatte versucht, mit ihr im Land zu leben,
hatte versucht, Teil der Kultur zu werden, war ein ums andere Mal gescheitert.
Deshalb musste es jetzt klappen! Sonst …
»Lotfi, weißt du was?«, fragte ich ihn.
Bedrückt schüttelte er den Kopf.
»Es klappt.«
Wir kauften noch ein wenig Proviant in einem kleinen
Lebensmittelladen, Hanut , Saft, Brot, Kekse,
Schokolade, Obst, ehe wir zum Haus zurückkehrten. Dort hatte sich die Stimmung
von gespannter Erwartung hin zu einer bedrohlichen Gereiztheit verändert.
Manche Männer stritten lautstark.
»Was ist da los?«, fragte ich Lotfi.
»Am besten, ihr geht mal eine Weile in euer Zimmer.«
Ich folgte seinem Rat. Die lauten Stimmen machten mir Angst. Was
bedeutete das? Worauf warteten wir? Das Wetter war doch gut. Warum fuhren wir
nicht? Wieso wurden wir ständig vertröstet? Der Lärm wurde immer lauter. Es
schienen auch immer mehr Männer anzukommen. Und eine zweite Frau. Sie hatte
eine lange Reise hinter sich und war kollabiert. Zwei Männer trugen sie in
unser Zimmer und legten sie aufs Bett. Mir wurde alles zu eng.
Lotfi bemerkte meine Bedrängnis: »Lasst uns nach draußen gehen«,
schlug er vor.
Vor dem Haus stand das Auto unseres Fahrers. Lotfi, Emira und ich
stiegen ein. Der Fahrer saß vorne und las Zeitung. Es war zwar unbequem im
Auto, aber wenigstens leise. Hin und wieder nickte ich ein. Emira schlief fest
in ihrem lilafarbenen kuscheligen Daunenmantel, den ich ihr neu gekauft hatte.
Später erfuhr ich, dass es in der Wohnung zu Streitereien gekommen war, als das
Gerücht die Runde machte, es gäbe zu viele Leute für die Boote, nicht alle
könnten mitgenommen werden.
Das Handy des Fahrers klingelte. Plötzlich sollte es losgehen. Es
war halb fünf Uhr morgens, noch dunkel. Lotfi holte unser Gepäck. Wir fuhren
ohne Licht. Hielten irgendwo. Warteten. Ein Anruf kam. Es ging weiter. Wir
warteten. Ein Anruf. Wir fuhren fünf Minuten. Warteten. Der nächste Anruf. Wir
fuhren weiter. Wir verfuhren uns. Und dann warteten wir wieder.
In Deutschland würde so etwas besser funktionieren, dachte ich. Die
kriegen das hier nicht auf die Reihe.
Doch in dem Augenblick, als die Nacht sich im Kampf um den Tag
geschlagen gab und aus den grauen Schemen Häuser und Bäume wurden, erhielt
unser Fahrer den entscheidenden Anruf mit der richtigen Adresse. Auf einmal
waren wir umgeben von Autos, die alle in derselben Straße parkten. »Schnell,
schnell!«, hieß es. Wir sollten aussteigen und in ein
Haus laufen. Das Vorspiel war gar nicht chaotisch gewesen. Das war Absicht!
Ein Mann mit einem Baseballschläger in der Hand schrie die
Ankömmlinge
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